Vergleich der Leistungsfähigkeit verschiedener Bemessungsansätze für die Nachbemessung historischer Steineisendecken im Bestand

Diplomarbeit am Lehrstuhl für Bautechnikgeschichte und Tragwerkserhaltung verfasst von Jean-Paul Giese im Winter 2005/2006

Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert war die Steineisendecke eines der gebräuchlichsten Deckensysteme weltweit. Im Wohnungs- und Industriebau sowie in öffentlichen und staatlichen Gebäuden kam die Steineisendecke in zahlreichen Ausführungsvarianten millionenfach zur Anwendung. Das Bemühen um den Erhalt und die weitere Nutzung dieser Decken macht es notwendig, die Tragfähigkeit des historischen Bestandes auch mit den heute geforderten Lasten nachzuweisen. Da diese Lasten mit den zur Herstellungszeit üblichen Ansätzen meist nicht mehr nachzuweisen sind und die heute gültigen Regelungen augenscheinlich kaum mit den Eigenschaften der historischen Decken in Einklang zu bringen sind, wird in der Praxis meist auf experimentelle Tragfähigkeitsnachweise zurückgegriffen. Die Untersuchung verschiedener Bemessungsansätze und die damit verbundene mögliche Aktivierung rechnerischer Tragfähigkeitsreserven gaben den Anstoß zur Formulierung dieser Aufgabenstellung.

Für die Nachbemessung werden zwei Deckensysteme betrachtet, welche sich vor allem durch ihre weite Verbreitung auszeichnen. Untersucht werden die im Jahre 1892 von Johann Franz Kleine patentierte „Kleinesche Decke“ und die um ca. 1910 von Adolf Ackermann entwickelte so genannte „Reformhohlsteindecke“.

Grundlage der Nachbemessung sind die Vorschriften und Normen aus fünf unterschiedlichen Epochen, welche die wesentlichen Entwicklungsschritte in der Stahlbetonbemessung in Deutschland kennzeichnen. Im Hinblick auf die begriffliche Definition der Steineisendecke und die allgemeinen Bemessungsregeln für die Nachweise auf Biegung und Querkraft sind die unterschiedlichen Ansätze ausführlich aufbereitet und großformatig in einer Übersicht zusammengefasst. Insbesondere die „modernen“ Bemessungsvorschriften machen es dabei unumgänglich, auch von den Regelungen abweichende Annahmen zu treffen, um sich rechnerisch den Eigenschaften der historischen Konstruktionen und Werkstoffe anzunähern. Die Auswertung der Bemessungsergebnisse zeigt die wesentlichen Schwächen der historischen Ansätze und stellt somit deren Leistungsfähigkeit zunächst deutlich hinter die Nachweise der „modernen“ Verfahren. Diese setzen u. a. jedoch voraus, dass die historischen Werkstoffe auch dem Verformungsverhalten der genormten Baustoffe entsprechen. Die separate Analyse aller Bemessungsansätze skizziert mögliche Unsicherheiten und Risiken und macht den Einfluss verschiedener konstruktions- und verfahrensbezogener Parameter auf das Bemessungsergebnis sichtbar. Es wird gezeigt, dass insbesondere die historischen Ansätze eine Vielzahl von nachweisinternen „Stellschrauben“ aufweisen, durch welche sich die rechnerische Tragfähigkeit der Decken teils beachtlich steigern lässt. Würde am konkreten Beispiel einer Bestandsdecke der historische Bemessungsansatz dennoch kein ausreichendes Ergebnis liefern, so wäre die Aktivierung von (rechnerischem) Tragpotenzial durch die Anwendung heutiger Bemessungsmethoden durchaus denkbar.