Das Weiterdenken von ostdeutschen Großwohnsiedlungen im ländlichen Raum anhand eines bauhistorisch-reflektierten Umgangs aufgezeigt am Entwurfsbeispiel der Stadt Neuruppin The further thinking of East German large housing estates in rural areas on the basis of an architectural-historical-reflective approach - shown on the design example of the city of Neuruppin

Zu welchem Ausdruck gelangen behutsame baulich-gestalterische Lösungsansätze von ostdeutschen Großwohnsiedlungen am Entwurfsbeispiel Neuruppin Süd anhand einer bauhistorischen Reflexion und Neuinterpretation?

Mit ländlichen Mittelstädten wie Neuruppin werden in der Regel romantisierende Wunschbilder belebter historischer Stadträume in dichter Nutzungsmischung der europäischen Stadt verbunden. Dabei entstehen Assoziationen, neben immateriellen Kulturbezügen, zu schmucken Fassaden, attraktiven, vitalen Plätzen oder Straßenräumen architektonischer Stadtbaukünste vergangener Jahrhunderte (Durth 2012: 10). Gleichwohl dominieren abseits davon standardisierte Wohnkomplexe und durchrationalisierte Großwohnsiedlungen der Nachkriegsmoderne das Stadtbild im ostdeutschen Raum. Dabei bilden die seriell-genormten Neubaugebiete, zumeist am Stadtrand, eine der wenigen noch existenten „Errungenschaften des Realsozialismus“ der ehemaligen DDR. Zugleich sind diese Neubaugebiete seit der politischen Wende (1989/1990) von einer Reihe differenzierter Entwicklungsverläufe gezeichnet. Zu den Herausforderungen zählen u.a. neben der allgemeinen Überformung und Transformation, die stetigen Fluktuationen und Heterogenisierungen der Bewohner*innen-Struktur, die fortschreitende Schrumpfung und Überalterung in strukturschwachen bzw. peripheren Regionen, die Konkurrenz zum privaten Eigenheim sowie die individuelle Entfaltung und Selbstbestimmung der Bewohner*innen. Doch welche Erkenntnisse könnten aus den Konzeptionen und Utopien der sozialistischen Stadtbaugeschichte sowie einen gerechten bauhistorisch-reflektierten Umgang für die künftige Entwicklung in architektonischer und stadtgestalterischer Hinsicht maßgebend sein?

In der vorliegenden Arbeit wurde ein hybrides Format bestehend aus einer textlich-konzeptionellen Komponente und einem stadtgestalterischen Entwurf gewählt. Dabei wurden die wesentlichen bauhistorischen Entwicklungen und baupolitischen Entscheidungen hinter dem Wohnungswesen und der randstädtischen Neubaugebiete in der ehemaligen DDR skizziert. Neben den Abhängigkeiten der Wohnungs- zur Industriebaupolitik und deren zentralstaatlicher Lenkung von Investitionen wurden die charakteristischen Normierungen und Standardisierungen der Typenbauten, als eine flächendeckende Anwendung in den 14 Bezirken und in Berlin-Ost, behandelt. Auch die politischen bzw. ideologischen Interessen und Ideale hinter der Errichtung von Großsiedlungen wurde durch das Wohnkomplexmodells nach der sozialistischen Lebensweise kritisch hinterfragt. Anhand des Fallbeispiels von Neuruppin Süd wurden im weiteren Verlauf der Arbeit die ideellen Vorstellungen der sozialistischen Stadtkomposition der Kreisstadt in der Territorial- und Stadtplanung des Bezirks Potsdam aufgezeigt (vgl. Bild 1).

Die analytische Grundlagenbildung wurde abschließend um die Betrachtung der ursprünglichen architektonischen und stadtgestalterischen Grundsätze sowie Prinzipien in Form der Primär- und Sekundärfaktoren einer komplexen Umweltgestaltung erweitert (vgl. Bild 2).  Um der Frage nachzugehen welche geeigneten baulich-gestalterischen Lösungsansätze aus einer Neubetrachtung für ostdeutsche Großwohnsiedlungen vorstellbar wären, galt es zuvor die komplexen Sachverhalte des bisherigen Weiterentwicklungsverlauf und die „Großwohnsiedlungen als Bestandteil der europäischen Stadt“ abzuwägen. Anschließend gelangten diese zwei inhaltlichen Aspekte mit der Reflexion von bauhistorischen Gestaltungselementen von Neubaugebieten und Stadtrandlandschaften zur Formulierung von Strategien des behutsamen Umgangs.

Im stadtgestalterischen Entwurf wurden die gewonnenen Erkenntnisse in Form der Konzeption von gesamtstädtischen Verflechtungen als Betonung und Ableitung der städtischen Eigenarten und Logiken angewandt. An den ortsgebunden konzipierten Verflechtungen interagieren bestehende und ergänzende öffentliche Freiräume, Orte der Nachbarschaft, kulturelle und gesellschaftliche Begegnungsorte, sowie öffentliche Einrichtungen und soziale Infrastrukturen mit dem unmittelbaren stadträumlichen Kontext (vgl. Bild 3).

Neben den kleinteiligen und diversifizierten Wohnraumangeboten sind mehrere behutsame und partielle Ergänzungsneubauten des angedachten wohnverträglichen Handwerkes, des Kleingewerbes, Co-Working Spaces und Orte der Kreativwirtschaft zu nennen (vgl. Bild 4). Mit einer baulichen Korrektur im Vertiefungsbereich in Form von pavillonartigen Konstruktionen und der Verlagerung der Baumasse an den südlichen Rand des Wohnkomplexzentrums entsteht die Möglichkeit, mit der Reduzierung des bestehenden Hauptverkehrsraumes, den öffentlichen Freiraum durch die übergeordnete Raumbildung über die Heinrich-Rau- Straße in das Zentrum und zur offenen Landschaft überzuleiten (vgl. Bild 5).

Quellen:

BfStP: Stadt der Zukunft (Aust. Geschichte der Stadt von ihrer Gründung bis zur Gegenwart Neuruppin, Museum), hrsg. v. d. Museum Neuruppin, Neuruppin o.J.

Durth, Werner (2012): Große Wohnsiedlungen als Bestandteil der europäischen Stadt, In: Kompetenzzentrum Großsiedlungen e.V. (Hrsg.): Klimaschutz und Energiewende – Potenzial der großen Wohnsiedlungen. Berlin, S. 10.

Landesvermessung und Geobasisinformation Brandenburg (11.01.2021): Digitale Orthophotos – DOP [online]. geobroker.geobasis-bb.de/gbss.php, lizensiert unter: dl-de/by-2-0 (https://www.govdata.de/dl-de/by-2-0) [Zugriff am 20.08.2021].

OpenStreetMap-Mitwirkende (o.J.) Willkommen bei OpenStreetMap! [online]. www.openstreetmap.org, lizensiert unter: Open Data Commons Open Database License (ODbL), creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/deed.de [Zugriff am 15.06.2021].

Potsdam; Brandenburgisches Landeshauptarchiv: 406 BfSt Pdm 26 (= Bebauungskonzeption Wohnkomplex III, Fehrbelliner Straße).