In die Tiefe sehen: Wissenschaftliche Bilder vom See

Thema
Visualisierung, Gegenstandskonstituierung, Freilandwissenschaft
Medien
Diagramme, Tabellen, Texte
Zeitraum
ca. 1870 - 1925
Disziplin
Wissenschaftsphilosophie, Wissenschaftsgeschichte
Schlagwörter
Seen, Limnologie, Visualisierung
Literatur:
Schwarz, A.E. (2003). Die Ökologie des Sees. Diagramme als Theoriebilder. In: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik, 1, pp. 64-74.

Am Anfang der Limnologie, der Ökologie der Binnengewässer, steht die Transformation vom „See der Alltagserfahrung“ in den wissenschaftlichen Gegenstand „ökologischer See“. Bei diesem Vorgang wird der See nicht allein durch Beobachtung, sondern durch Handeln am Gegenstand angeeignet. Arbeit wird am See geleistet, es werden Messungen durchgeführt, buchstäblich Zahlenwerte gehoben, in Tabellen angeordnet, Algorithmen angewandt, Daten in Diagramme überführt. Der See wird zu einem kontrollierbaren und manipulierbaren Gegenstand.

In der vorliegenden Studie wurde ein Zeitraum von 1869 bis 1922 berücksichtigt. 1869 veröffentlichte der Naturforscher François-Alphonse Forel einen Artikel, in dem erstmals der See als Umwelt für Organismen und damit als Ganzes, als „System“, beschrieben wurde. 1922 wurde die internationale Vereinigung für Limnologie gegründet, womit die wissenschaftliche Disziplinierung des Sees vollzogen war. Während Grafiken am Anfang dieser wissenschaftlichen Aneignung gar keine Rolle spielten, wurden sie auf dem Weg zur epistemischen Etablierung des Sees immer wichtiger und schließlich geradezu identitätsstiftend für die Disziplin.

Dies gilt zumindest für ganz bestimmte Diagramme: Entscheidend an der Kurve ist, dass die Tiefe von oben nach unten aufgetragen wird und entsprechend Parameter wie Temperatur oder die Häufigkeit von Plankton von der Wasseroberfläche in die Tiefe dargestellt sind. Dies ist zwar entgegen der gewohnten Leserichtung, vollzieht indessen das wissenschaftliche Handeln in die Tiefe des Sees nach. Der Diagrammtyp repräsentiert den See also gewissermaßen topographisch, reproduziert das Handeln in der Tiefe und erschließt über die visuelle Repräsentation den Tiefenraum. Die sogenannte Tiefenordinate bildet den Grund der Disziplin Limnologie.

Eine Stabilisierung durch die bildliche Darstellung im Diagramm erfährt auch der Forschungsgegenstand selbst: Der See wird durch das graphische Bild zu einem normalisierten Wasserraum (auch im Sinne der Geometrie). Die Kontinuität im graphischen Raum erzeugt eine Homogenität, die durch die lineare Verbindung der Messwerte erzeugt wird, sie macht Kontinuität im See überhaupt erst vorstellbar. Und diese Vorstellung wiederum ermöglicht die praktische Orientierung im See und trägt auf diese Weise letztlich zur Stabilisierung des Forschungsgegenstands „ökologischer See“ bei.

Ein weiterer, medientheoretisch wie wissenschaftstheoretisch interessanter Aspekt in dieser Arbeit ist die Diskussion der Repräsentation der gefundenen Organismen im See, die eine Transformation von Text zu Tabelle zu Diagramm durchläuft. In den ersten limnologischen Abhandlungen wurde die Anzahl gefundener Organismen zunächst in Zahlwörtern im Fließtext angegeben, dann im nächsten Schritt Zahlwörter tabellarisch gelistet, so dass immer noch keine Rechenoperationen möglich waren. Im nächsten Schritt wurden dann Zahlen angegeben, diese schliesslich in Zahlenkolonnen angegeben und durch die Anwendung bestimmter Algorithmen weiter verdichtet. Noch später enthielten die erhobenen Tabellen eine stetig wachsende Anzahl von Parametern, die mit Hilfe von Ziffern dargestellt wurden. Die Tabellen wurden immer komplexer und damit unübersichtlich. Der Schritt in die Grafik erlaubte eine „neue Übersichtlichkeit“. Graphiken verleihen eine Vogelperspektive auf das Datenmaterial einer Tabelle: sie sind auf einen Blick überschaubar, bilden ein Ganzes, ein Bild. Für das geübte Auge ist die Graphik also einfacher zu lesen, es werden Phänomene sichtbar, die in der Tabelle nur ablesbar, aber nicht ersichtlich waren.