Wilhelm von Sens († 1180) Würdigung

Begründer der Gotik in England

Mit Wilhelm von Sens kam der gotische Baustil von Frankreich nach England. Der Chor der Kathedrale von Canterbury war der Impuls für den später in England einsetzenden „English Gothic“ und gilt als Vorbild für weitere Bauwerke in England und Europa.

Bericht des Gervasius von Canterbury

Der Mönch Gervasius von Canterbury (Gervasius von Tilbury) lebte vermutlich von 1141 bis 1210 und war Chronist der Abtei Canterbury. Über Gervasius Leben ist wenig bekannt. Jedoch wurde seine schriftliche Abhandlung zum Neubau des Chores der Kathedrale von Canterbury (ab 1175) eine der bedeutendsten mittelalterlichen Quellen für die baugeschichtliche Forschung. Durch die Denkschrift „Gervasii Cantuariensis tractatus de combustione et reparatione Cantuariensis ecclesiae“ ist der Name von Wilhelm von Sens als leitender Baumeister des Chores überliefert. In dieser Schrift dokumentierte Gervasius die Bauentwicklung ausführlich und verglich die Bauformen des Chores aus der romanischen Bauphase mit den frühgotischen Bauelementen. Dieser Stilvergleich gibt Aufschluss über das Verständnis von Architektur zu seiner Zeit. In seinem Werk bezeichnete Gervasius Wilhelm von Sens als „einfallsreich“ und als einen Baumeister mit großer „Erfindungsgabe und Geist“, der sowohl im Holzbau als auch im Steinbau brillierte. Anhand seiner Beschreibungen über Wilhelm von Sens lassen sich Rückschlüsse auf das Leben und die Ausbildung des Baumeisters ziehen. Der mittelalterliche Werkmeister ist im Umgang mit Holz und Stein ausgebildet, welches Gervasius mit den Worten „[...] ein ausgesprochen tüchtiger Mann, in Holz und Stein ein ganz besonders Kunstfertiger [...].“ [BINDING 2004] und „Ihm und der Vorsehung Gottes wurde die Vollendung des Werkes anvertraut.“ [SCHRÖDER 2000] zum Ausdruck brachte.

Mysterium Wilhelm von Sens

Obwohl der Baumeister großer frühgotischer Kathedralen Impulse für spätere Bauwerke in Europa setzte, ist über sein Leben und seine Biografie wenig überliefert. Dieser Umstand kann seinem Arbeiten in der Entstehungsphase der Bauhütten geschuldet sein. Zudem war Wilhelm von Sens als Master Mason Teil einer Bauhütte und hatte dementsprechend einen Eid zur Geheimhaltung der baulichen Kenntnisse abgelegt. Aus der Frühgotik sind nur vereinzelt Aufzeichnungen über die Erstellung eines Bauwerkes hinterblieben. Ein „Bauhüttenbuch“ des französischen Baumeisters Villard de Honnecourt ist hingegen aus dem frühen 13. Jahrhundert (Hochgotik) noch heut erhalten. Überbleibsel aus der Spätgotik sind beispielsweise die deutschen Lehrbücher von Lorenz Lacher, erschienen um 1500, und das „Büchlein der Fialengerechtigkeit“ des Regensburger Dombaumeisters Matthäus Roritzer aus dem Jahr 1486. Scheinbar erlangten die Hüttenmeister der Hoch- und Spätgotik größeren Ruhm als jene der Frühgotik. Ebenfalls publizierten sie ihre bautechnischen und konstruktiven Kenntnisse und hinterließen uns so einen Einblick in die damaligen Kenntnisse der Baumeister.

Die kaum erfassten Lebenswege und Geschehnisse um das Leben von Wilhelm von Sens lieferten Anknüpfungspunkte für mehrere Schriftsteller und Dichter, die vorhandenen Lücken mit Fantasie auszufüllen.

Canterbury Tales

In den „Canterbury Tales“ von Geoffrey Chaucer wird ein gotischer Baumeister als Teil der Geschichten um die Pilgerreisen nach Canterbury erwähnt.

The Zeal of Thy House

In Dorothy L. Sayers „The Zeal of Thy House“ (Die Eifer für dein Haus) ist der Sturz des Baumeisters vom Gerüst thematisiert. Das moderne Theaterstück der Autorin bezieht sich auf den Bericht des Gervasius von Canterbury und wurde für das Canterbury Festival 1937 geschrieben. Dem Ausspruch Gervasius „Ihm und der Vorsehung Gottes wurde die Vollendung des Werkes anvertraut“, wurde in dem Theaterstück eine hohe Bedeutung und göttliche Bestimmung beigemessen.

Das jährlich stattfinde Festival befasst sich traditionell mit der Geschichte der Kathedrale von Canterbury. Das Thema im Jahr 1937 hieß „Künstler und Handwerker“, woraufhin Sayers Wilhelm von Sens als Protagonisten und vor allem seinen mysteriösen Sturz aus 15 m Höhe in den Mittelpunkt des Geschehens stellte. Des Weiteren bezieht sie sich auf den Ausspruch Gervasius „entweder die Vergeltung Gottes oder der Neid des Teufels“ seien Ursachen für den Unfall.

Nacht über Canterbury

Der tragische Unfall von Sens wird auch Gegenstand der Untersuchung in einem Mittelalter-Krimi „Nacht über Canterbury“ von Eduard Kopp, Diplom-Theologe und leitender Redakteur bei einer evangelischen Zeitschrift. Der Krimi beschäftigt sich mit der Frage, ob der Sturz des Baumeisters wirklich ein Unfall war oder der neue französische Stil den Mönchen unlieb war. Der Chronist Gervasius von Canterbury selbst wird in die Rolle des ermittelnden Detektivs gerückt. Das Buch war Auftakt für eine neue Reihe von Kirchenkrimis.