Statement zum Volksentscheid Berlin 2030 klimaneutral

In Berlin steht am 26. März ein Volksentscheid an: Es geht um eine Gesetzesänderung, durch die das Land Berlin verpflichtet werden soll, die Stadt bis 2030 klimaneutral zu machen. Prof. Hirschl hat sich als Hauptautor einer Studie im Auftrag des Berliner Senats genau mit der Frage beschäftigt, bis wann und wie Berlin sich dem Ziel der Klimaneutralität nähern kann.

Die Studie "Berlin Paris konform machen", die im Zeitraum 2019 - 2021 im Auftrag des Berliner Senats unter Leitung des IÖW erarbeitet wurde, ging der Frage nach, wie ein klimaneutrales Berlin langfristig aussehen kann - und welches Emissionsminderungsniveau man bis 2040 und bis 2030 erreichen kann. Dabei wurde die Klimaneutralität bis 2030 nicht normativ vorgegeben, sondern es sollten "realistisch-plausible" Szenarien entwickelt werden, die einerseits ein sehr hohes politisches Ambitionsniveau berücksichtigen, andererseits aber auch die zeitlichen Verzögerungseffekte, die entstehen, wenn schwerfällige Bereiche wie der Infrastrukturumbau, die Fachkräftegewinnung, die energetische Gebäudesanierung, die Verbreitung von Geothermie in der Stadt, der Aufbau von Mobilitätsalternativen und die Umverteilung des Straßenraums insbesondere mit Blick auf die kurze Frist mit berücksichtigt werden.

Hohes Ambitionsniveau der Studie

Die Studie wurde durch ein breites Konsortium mit Expertise aus allen Sektoren erstellt, unter Einbeziehung von Verwaltungswissen und mit Feedbackschleifen aus diversen Beteiligungsrunden mit zivilgesellschaftlichen Akteuren, Wirtschaft und weiteren wissenschaftlichen KollegInnen. Neben der Erstellung von Szenarien für die Jahre 2050, 2040 und 2030 ging es insbesondere mit dem Fokus auf die kurze Frist 2030 um die Entwicklung von Maßnahmenvorschlägen. Während das Langfristszenario eine vergleichsweise "restriktionsfreie" Welt abbildet, sind demgegenüber insbesondere bei der kurzen Frist bis 2030 eine Reihe von limitierenden Faktoren zu berücksichtigen. Diese zu identifizieren und in den Annahmen und Verläufen mit abzubilden liefert wertvolle Informationen für realistisch erreichbare Zielwerte und gleichzeitig auch Hinweise auf wichtige Maßnahmenbereiche, die vorrangig zu adressieren sind. Dabei wurden insbesondere für das 2030er Szenario viele sehr ambitionierte Annahmen getroffen. Dazu gehört zum Beispiel die (bereits 2020 von uns getroffene) Festlegung, dass wir von einem bundesweiten Kohleausstieg bis 2030 ausgegangen sind, da sich dieser über den Strombezug auch in den Emissionsbilanzen Berlins stark bemerkbar macht - und "marktgetrieben" durchaus zustande kommen könnte. Die Solarpotenziale haben wir mit 37% deutlich höher angesetzt als in unserer Vorgängerstudie, aus der der 25%-Anteil stammt, welcher derzeit als politischer Zielwert für Berlin gilt. Und als langfristige Sanierungsrate haben wir 3,4% angesetzt; ein Wert, der angesichts der aktuellen ökonomischen Situation in der Bauwirtschaft, der jahrzehntelang niedrigen Sanierungsrate und angesichts des parallel stattfindenden Neubaus als sehr hoch einzustufen ist.

Berücksichtigte Restriktionen, die es zu überwinden gilt

Auch wenn wir konsequent auf den Klimaneutralitätspfad einschwenken - was wir tun müssen - dann wird man nicht in allen Bereichen mit einem Wimpernschlag unmittelbare Effekte und Erfolge sehen und die notwendigen Zielzahlen sofort erreichen können. Für das Erreichen der Klimaneutralität bis 2030 wären beispielsweise vermutlich 4-6 % energetische Sanierungsrate erforderlich, wie einzelne Studien berechnet haben - diese Größenordnungen erscheinen an sich schon utopisch hoch. Die in so kurzer Zeit erforderlichen Menschen, Materialien, Gelder und Dienstleistungen wären kaum physisch und wirtschaftlich beschaffbar. Zudem muss ja von einem Hochlauf ausgegangen werden, wodurch sich für das Erreichen eines Durchschnittswerts von z.B. 5 % Sanierungsrate eine Entwicklung von heute (in Berlin vermutlich deutlich unter 1 %) bis auf ein Niveau von vermutlich weit über 10 % bis 2030 entwickeln müsste - um danach wieder auf einen Minimalwert zu fallen. Wir sind in unserer Studie von einer Sanierungsrate von 3 % im Jahr 2030 ausgegangen - bei einem sukzessiven Anstieg von etwa 0,25 % pro Jahr bis dahin. Daraus ergibt sich dann ein niedrigerer Durchschnittswert von 1,8 %. Eine aktuelle Studie von mehreren renommierten Instituten kommt für den bundesweiten Gebäudebereich zu dem Schluss, das dieser nur dann bis 2045 klimaneutral werden kann, wenn alle Hebel und Instrumente jetzt vollständig implementiert werden, von Standards bis hin zur Sozialverträglichkeit. Ein Erreichen des Sektorziels für das Jahr 2030nach Klimaschutzgesetz sehen die ExpertInnen und Experten jedoch aufgrund der Trägheit dieses Sektors schon nicht mehr als realisierbar an - auch wenn die geforderten Maßnahmen sofort umgesetzt würden. Der Berliner Gebäudebestand dürfte hier nicht anders einzuordnen sein.

Um ein anderes Beispiel zu nennen: ein verstärkter Einstieg in die Geothermie kann durch Genehmigungsvereinfachungen erfolgen, worunter aber der Grund- und Trinkwasserschutz leiden könnte. Damit würde sich die Schutzgüterabwägung, die heute tendenziell öfter gegen Klimaschutz und GeoEnergievorhaben ausfällt, dann womöglich zu Lasten des Umwelt- und Gesundheitsschutzes entwickeln. Das wäre für eine Stadt wie Berlin fatal, da wir 100% unseres Trinkwassers aus dem Grundwasser beziehen und bei Bohrungen in dem häufig mit Altlasten oder Salzen bestückten Untergrund große Vorsicht und Sorgfalt walten muss. Wir brauchen daher nicht nur eine schnelle, sondern gleichermaßen eine sorgfältige, umsichtige - eine nachhaltige Entwicklung; von den Wirtschaftszweigen, die wir auf dem Weg zur Klimaneutralität brauchen, wie auch bei allen Technologien und Systemen die wir einbauen. Das Vorgehen ist dann durch den Hochlauf über Pilotvorhaben, Monitoring und Bewertung vor einem breiteren "Roll-out" etwas aufwändiger - und leider entsprechend zeitintensiver.

Es gibt eine Vielzahl weiterer Restriktionen, Zielkonflikte und Hemmnisse, die bei entsprechend konsequenter politischer Adressierung gemindert oder gelöst werden können und müssen - und sich dann sukzessive positiv entwickeln werden, jedoch bis 2030 aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zur vollständigen klimaneutralen Blüte gelangen können. Zu den oben bereits genannten Restriktionen kommen noch unter anderen die Verfügbarkeit von Wasserstoff und grünen Brennstoffen oder aber die ausreichende Verfügbarkeit von Windstrom aus dem Umland hinzu, den wir in Berlin als wichtigstes Importprodukt der Zukunft brauchen werden. Auch hier sei der aktuelle Stand des Wissens kurz angeführt: die meisten Studien sind bezüglich der Verfügbarkeit für (echten) grünen Wasserstoff bis 2030 sehr skeptisch und zurückhaltend, und mit den bis dahin verfügbaren Mengen müssen die Kraftwerke, die Industrie, der Flug- und ggf. der Schwerlastverkehr bedient werden. Für einen bis dahin zu wenig sanierten Gebäudebestand ist dann noch nichts übrig, und selbst herstellen können wir in Berlin bis dahin solche Mengen auch nicht.

Für eine solche Herstellung, aber auch für die bis dahin vielen installierten Wärmepumpen und Elektrofahrzeuge brauchen wir zudem viel Windstrom von außen. Bis 2030 soll es bundesweit nach dem Willen der Ampelregierung 80% Erneuerbare im Stromsystem geben. Von der Erreichung dieses Ziels sind wir aktuell leider zum einen noch recht weit weg, zum anderen ermöglicht dies noch keine Klimaneutralität in Berlin. Und viele dieser Windanlagen sollten aus Effizienzgründen in Brandenburg stehen, dafür müssen unsere Brandenburger Nachbarn aber auch den größtmöglichen Nutzen davon haben und daran beteiligt werden. Dafür müsste das Land Berlin sich an vorderster Stelle einsetzen, denn die Berlin braucht diesen Strom, und Brandenburg braucht folglich Rahmenbedingungen, die eine Akzeptanz vor Ort ermöglichen.

Chancen und Risiken der Volksabstimmung

Unsere inter- und transdisziplinär durchgeführte Studie kommt auf Basis der restriktionsbasierten Analyse zu dem eindeutigen Ergebnis, dass ein Erreichen der Klimaneutralität bis 2030 nahezu ausgeschlossen erscheint, das dies jedoch in den 2040er Jahren erreichbar ist. Bei Eintreten des ambitioniertesten Szenarios könnte dies bis Anfang der 2040er Jahre klappen. Dies bildet den Stand des Wissens ab, der 2021 vorlag, die Ergebnisse sind in Ihrer Tendenz und in den Kernaussagen jedoch auch heute noch als robust anzusehen. Selbstverständlich können sich einzelne Bereiche schneller entwickeln, allerdings kann es - angesichts des insgesamt hohen Ambitionsniveaus - in anderen Bereichen auch langsamer ablaufen.

Das beantwortet aber noch nicht die Frage, ob nun am Sonntag mit JA oder NEIN beim Volksentscheid gestimmt werden sollte. Denn dabei geht es ja auch um die persönliche politische Bewertung von weiteren Fragen wie: Unterstützt oder schadet ein Ja dem Anliegen, schnellstmöglich eine wirksame Klimaschutzpolitik zu erreichen, eine größtmögliche Akzeptanz für eine solche wirksame Klimaschutzpolitik aufrechtzuerhalten und im besten Fall zu stärken - und somit das Ziel der Klimaneutralität selbst letztendlich schnellstmöglich zu erreichen? Dies bleibt weiterhin eine Meinungsentscheidung, die aktuell - in Ermangelung entsprechender Untersuchungen - nicht treffsicher von der Wissenschaft beantwortet werden kann.

In jedem Fall sollten sich alle zivilgesellschaftlich, professionell und politisch Tätigen, denen an einer schnellstmöglichen Erreichung der Klimaneutralität gelegen ist, auf beide Ereignisse des Wahlausgangs vorbereiten. Im Falle einer Mehrheit für den Volksentscheid sind gute Lösungen zu suchen, um das Gesetz bestmöglich und sozial-ökologisch verträglich umzusetzen und möglicherweise frühzeitig - und breit getragen - die richtigen Anpassungen vorzunehmen. Wird die vorgeschlagene Gesetzesänderung jedoch abgelehnt oder erreicht nicht das Quorum, ist schnellstmöglich wieder ein Schulterschluss der Klimaschutzszene anzustreben, um mit aller Energie gemeinsam sozial-ökologische Lösungen zur Klimaneutralität voranzubringen und politisch zu unterstützen - jenseits von Debatten um Zieljahre.

Aktuelle Beiträge dazu in den Medien: Video zur Podiumsdiskussion veranstaltet von Mehr Demokratie e.V. am 22.3.2023; Fernsehbeitrag im RBB vom 21.3.2023 (weitere u.a. in den heute-Nachrichten vom 25.3., Tagesschau vom 26.3.).

NACHTRAG vom 31.3.2023:

Nach dem negativen Ausgang des Volksentscheids (knappe Mehrheit (51%) stimmte für ja, Quorum jedoch klar verfehlt) hat Prof. Hirschl in der Zeitung TAZ ein Interview zur Nachlese gegeben, siehe hier.

Kontakt

Prof. Dr. phil. Bernd Hirschl
Management regionaler Energieversorgungsstrukturen
T +49 (0) 3573 85-534
bernd.hirschl(at)b-tu.de