Wie unser Gehirn Entscheidungen trifft
In der Arbeit der Wissenschaftler*innen der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg (BTU) und der der Université Paris-Saclay geht es um die Optimierung des Drift-Diffusions-Modells (DDM). Das mathematische Modell aus den 1970er Jahren ist eines der am häufigsten genutzten Hilfsmittel, mit dem experimentelle Ergebnisse zur Entscheidungsfindung zwischen zwei Alternativen interpretiert werden können. Grundgedanke des Rechenmodells ist die Annahme, dass der Mensch, bevor er eine einfache Entscheidung unbewusst trifft, fortwährend sensorische Informationen aufnimmt. Fahren wir auf eine Ampel zu, versucht unser Gehirn noch bevor wir bewusst sehen, ob sie rot oder grün ist, eine Entscheidung zu fällen. Mit jedem weiteren Meter treffen wir Annahmen darüber, ob die Ampel rot oder grün ist, selbst wenn die Kreuzung noch nicht sichtbar ist. Gab es zuvor Grünphasen? Fahren die Autos vor mir weiter oder bleiben sie stehen?
Das Modell nimmt an, dass das Gehirn pro Zeiteinheit eine konstante Menge an Informationen aus dem Sinnesreiz extrahiert (Drift). Zufällige Messungenauigkeiten, beispielsweise durch Regen (Diffusion), stören den Sinnesreiz. Am Ende dieses inneren Prozesses befindet sich eine von zwei Schwellen, bei der die entsprechende Antwort erfolgt. Erst dann weiß ich, ob ich weiterfahren oder bremsen soll.
"Unser Bewusstsein kann nicht alle Entscheidungen, die das Gehirn in jeder Sekunde treffen muss, zuvor sorgfältig analysieren. Sonst kämen wir wohl kaum noch zum Atmen", erklärt der Neurowissenschaftler Prof. Dr.-Ing. Stefan Glasauer aus dem BTU-Fachgebiet Computational Neuroscience. "Das Drift-Diffusions-Modell hat sich bei der Erklärung verhaltensbezogener und neurophysiologischer Daten als sehr erfolgreich erwiesen", sagt der Neurowissenschaftler und ergänzt: "Es weist jedoch Einschränkungen auf, wenn es darum geht, zuvor gemachte Erfahrungen wie beispielsweise Grünphasen vorheriger Ampeln einzubeziehen oder die Auswirkungen interner Faktoren wie das Wissen um Nachteile falscher Entscheidungen (eine rote Ampel als grün zu erkennen wäre schlechter als umgekehrt) auf die Entscheidungsfindung zu erfassen."
Gemeinsam mit den Wissenschaftler*innen der Université Paris-Saclay schlagen die Forschenden ein neues Modell vor. "Eine nichtlineare Version des Drift-Diffusions-Modells löst das Problem", so der Wissenschaftler. "In der Publikation zeigen wir auf, dass dieses Modell bei gleicher Komplexität besser abschneidet und experimentell gefundenen Reaktionszeiten genauer beschreibt als das originale Drift-Diffusionsmodell", sagt Stefan Glasauer. "Unser Modell bietet eine Alternative zum DDM für die Analyse von Wahrnehmungsentscheidungen und erlaubt Einflüsse aus der Zeit vor der Entscheidungsaufgabe zu berücksichtigen." Damit könnte das neue Modell beispielweise dabei helfen, Signale in Gehirn-Computer-Interfaces besser zu dekodieren.
Über den Wissenschaftler
Prof. Dr.-Ing. Stefan Glasauer forscht an der BTU Cottbus-Senftenberg zu den Prinzipien und Mechanismen von sensomotorischen Fähigkeiten, Wahrnehmung, räumlicher Orientierung und Navigation bei Mensch und Tier.
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