"Es gibt keine zerstörten, nur beschädigte Städte"
Im Fokus Ihrer Arbeit stehen Traumascapes – Orte, mit denen Menschen schmerzliche Erinnerungen verbinden.
Prof. Schmidt: Im Jahr 2014 jährte sich der Beginn des Ersten Welt-krieges zum hundertsten Mal. Aber auch die Auseinandersetzungen im Nahen Osten prägen meine Arbeit. Das Thema "Heritage and War" fordert die Denkmalpflege immer wieder. Was passiert mit kulturellen Stätten durch den Krieg? Erinnerungsorte, an denen sich die Menschen nachträglich mit den Geschehnissen auseinandersetzen, sind ein wichtiges und facettenreiches Thema.
Welche Herausforderungen birgt der Wiederaufbau?
Prof. Schmidt: Der Wiederaufbau einer durch einen Krieg zerstörten Stadt ist ein interdisziplinäres Thema. Im Fokus stehen einzelne Menschen, aber auch Gesellschaften und Prozesse. In Beirut wurde nach dem Krieg in den 1990er Jahren die Altstadt wiederaufgebaut. Man hat damals schön aussehende Shopping-Malls mit öffentlichen Mitteln errichtet, ohne die Menschen, die dort leben, zu beteiligen. Die zentrale Herausforderung ist es, den Bewohnern einer Stadt eine Stimme zu geben. Diese Prozesse zu moderieren und die Stakeholder an einen Tisch zu bringen, sodass alle den Wiederaufbau als gemeinsame Aufgabe verstehen, ist die größte Heraus-forderung. Erst wenn Einwohner, Städtebauer, Politikwissenschaftler, Archäologen, Architekten, Denkmalpfleger und Kulturerbe-Spezialisten zusammenarbeiten, kann ein gutes Ergebnis entstehen.
Sie sind Denkmalpfleger und Kulturerbe-Experte. Welche Frage steht bei Ihrer Arbeit im Mittelpunkt?
Prof. Schmidt: Aus meiner Sicht ist es nicht zwingend notwendig alle Gebäude wiederaufzubauen. Vielmehr sind hier die Städteplaner gefragt. Für uns sind die Orte interessant, die 3.000 bis 5.000 Jahre ununterbrochen besiedelt waren. In diesen steckt ein enormes Potenzial an kulturellem Erbe. Uns geht es aber nicht in erster Linie um die Bauwerke, sondern deren Bedeutung. Es gibt keine zerstörte Stadt. Es gibt nur beschädigte Städte. Wichtig ist, dass die Trümmer nicht vorschnell weggeräumt werden, damit die Grundrisse der historischen Stadt nachvollziehbar bleiben. Das ist nach dem zweiten Weltkrieg in Deutschland geschehen. Die sogenannte Tiefen-Enttrümmerung ist aus unserer Sicht unbedingt zu vermeiden. Wenn in einer zerstörten Altstadt alles wegge-räumt und zehn Meter tief ausgegraben wird, weil man guten Baugrund braucht, ist auch das Erbe der Stadt weg. Ziel sollte es sein, so viel wie möglich von der historischen Substanz zu erhalten. Nur so schaffen wir eine Grundlage, mit der man konstruktiv und kreativ weiterarbeiten kann.
Am 4. und 5. Dezember fand eine internationale Konferenz zum Thema "Cultural Heritage in Post-Conflict Recovery" statt. Welches Ziel verfolgt die Tagung?
Prof. Schmidt: Uns interessiert, welche Erkenntnisse vergangener Ereignisse heute nutzbar sind für die Aufgaben, die vor uns liegen. Zwanzig Referentinnen und Referenten aus Afrika, Asien und Amerika berichten auf der Konferenz von vergangenen Konflikten und stellen bereits entwickelte Methoden für den Wiederaufbau der letzten hundert Jahre vor. Wir wollen die Erfahrungen beispielsweise aus den zwei Weltkriegen, aber auch aus den Kriegen auf dem Balkan, in Afrika und Asien zusammenführen und zeigen, dass das Rad nicht immer neu erfunden werden muss.
Vor drei Jahren wurde das Cultural Heritage Centre an der BTU ins Leben gerufen. Welches Ziel verfolgt es?
Prof. Schmidt: An der BTU Cottbus–Senftenberg gibt es eine ganze Reihe von Fachgebieten, die sich mit dem Thema Kulturerbe befassen. Im Cultural Heritage Center arbeiten ungefähr 85 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter einem virtuellen Dach an ganz interdisziplinären Projekten zusammen – von der Umweltplanung über den Städtebau bis hin zur Interkulturalität. Das Zentrum ist die Basis der Forschung zum Kulturerbe an der BTU, aber auch internationaler Kooperation in Forschung und Lehre. Wir erhalten mehr als 100 Anfragen im Jahr aus aller Welt von Menschen, die gemeinsame Projekte mit uns bearbeiten und an unserer Universität promovieren wollen.
An welchen Themen werden Sie in Zukunft arbeiten?
Prof. Schmidt: Ein Thema, an dem wir derzeit arbeiten und das auch in Zukunft eine wichtige Rolle spielen wird, ist das Kulturerbe des 20. Jahrhunderts. Gemeinsam mit dem Internationalen Rat für Denkmalpflege ICOMOS arbeiten wir an einem Framework, dessen Ziel es ist, weltweit sichtbar zu machen, was dieses Erbe ausmacht. Orte wie die Berliner Mauer, die Raketen-Entwicklungsstätte in Penemünde, das Erbe der Raumfahrt und all die Entwicklungen im Tourismus, dem Verkehr oder der Gesundheitstechnik bis hin zum Internet, die unseren Alltag prägen, sind noch zu wenig im Blickpunkt der Forschung.
Vielen Dank für das Gespräch.
Prof. Dr. Leo Schmidt ist Kunsthistoriker und seit 1996 Professor für Denkmalpflege an der BTU. Er leitet die Master-Studiengänge "Heritage Conservation and Site Management" sowie "Bauen und Erhalten". Aktuelle Schwerpunkte seiner Forschung sind neben der Architekturgeschichte und Denkmalpflege britischer Landhäuser, vor allem Denkmale des 20. Jahrhunderts.