Forschungswerkstatt Dokumentarische Methode
„Man entdeckt mehr im gemeinsamen – mündlichen – Beschreiben von Texten, die Darstellung wird facettenreicher und dichter; und das dialogische Argumentieren – das Behaupten, Bestreiten, Bezweifeln, Begründen und Belegen – führt zu einer Differenzierung und Verdichtung von analytischen Abstraktionen, kontrastiven Vergleichen und theoretischen Modellen“ (Riemann 2011: 413)
Erfahrungen mit der Dokumentarische Methode in der Sozialarbeitsforschung
Die Dokumentarische Methode hat sich in den vergangenen fünfzehn Jahren in Forschungsarbeiten im Bereich der Sozialen Arbeit bewährt (vgl. Cremers et al.: 2020, Stützel: 2019, Bohnsack et al.: 2018, Kubisch: 2014, Radvan: 2010, Krüger/Pfaff: 2010, Kutscher: 2010). In diesen Forschungsprojekten konnten gegenstandstheoretische Erkenntnisse hinsichtlich Adressat*innen, Fachkräften und Organisation Sozialer Arbeit auf der Basis der praxeologischen Wissenssoziologie gewonnen werden (vgl. Bohnsack et al. 2018: 8). Die gemeinsame Arbeit am Datenmaterial - wie Gruppendiskussionen, narrative Interviews bis hin zu bildlichen Darstellungen und ähnliches - ist dabei von zentraler Bedeutung für das Entdecken der Praxis konjunktiver Erfahrungsräume.
Durch die reflektierende Interpretation und komparative Sequenzanalyse werden dem „atheoretischen Wissen“ (Mannheim in Bohnsack et al. 2018: 19) zugrundeliegende Orientierungsrahmen identifiziert und Typenbildungen vorgenommen. Somit lassen sich generalisierende Aussagen darüber treffen, welches Professionswissen sich hinsichtlich der unterschiedlichen Forschungsfragen findet. Durch die rekonstruktive Forschungsperspektive werden zudem Norm- und Differenzsetzungen in der Sozialen Arbeit kritisch hinterfragt. In dieser Gleichzeitigkeit vom herausarbeiten des „unbewussten Dokumentsinn“ (Schütze 1993 in Bohnsack et al. 2018: 16) und der Rekonstruktion der Herstellung sozialer Wirklichkeit in Sozialer Arbeit, liegt der Mehrwert der Dokumentarischen Methode für die Forschung in der Sozialen Arbeit (vgl. Bohnsack et al. 2018: 16).
Schritte im gemeinsamen Forschungsprozess
Die Forschungswerkstatt bietet neben methodologischen Diskussionen den Raum zur Vorstellung des Datenmaterials. Anhand dessen werden die einzelnen Schritte der Dokumentarischen Methode diskutiert. Beginnend mit dem Verfassen des thematischen Verlaufs und der Auswahl der zu transkribierenden Interviewpassagen erfolgt anschließend die Diskussion der formulierenden Feininterpretation. In diesem Schritt geht es darum, den thematischen Gehalt der Interviews in eigenen Worten zusammenzufassen und Über- und Unterthemen zu identifizieren. Diese Reformulierung des Textes dient auch dazu, „die Forschenden gegenüber dem Text fremd zu machen“ (Nohl 2017: 31). Herausgearbeitet wird, was im Interview gesagt wird. In der anschließenden reflektierenden Interviewinterpretation wird in den Blick genommen, wie etwas gesagt wird. Das Modell der Textsortentrennung von Schütz ist hierfür Grundlage. Demnach wird der Text nach Erzählung, Beschreibung, Argumentation und Bewertung analytisch unterschieden. (vgl. ebd.: 32). Im zweiten Schritt der reflektierenden Interpretation löst sich der Inhalt von den Sinnzusammenhängen der Akteur*innen. Hiermit geht ein Bruch mit dem alltäglichen Verständnis (Common Sense) einher. "Gefragt wird nicht danach, was die gesellschaftliche Realität ist, sondern danach wie diese hergestellt wird" (ebd.: 36).
Rekonstruktion und Diskussion der Handlungspraxis des Alltags
Die Dokumentarische Methode sucht in diesen Konstruktionsprozessen nach den Regelhaftigkeiten, den Orientierungsrahmen. Dafür werden nach der Rekonstruktion eines ersten Orientierungsrahmens weitere Textstellen gesucht, die auf die ähnliche Erfahrungsweisen zeigen um den Orientierungsrahmen möglichst differenziert zu beschreiben. In einem weiteren Schritt werden homologe Orientierungsrahmen, im Sinne des minimalen Kontrastes, fallübergreifend gesucht. Zur Validierung der Orientierungsrahmen werden anschließend Fälle mit maximalen Kontrast gesucht (vgl. ebd: 38ff.). Bereits für die Interpretation und komparativen Sequenzanalyse ist eine Forschungswerkstatt von besonderer Bedeutung. Hier geht es darum, die sozialwissenschaftlichen Konstruktionen „zweiten Grades“ (Schütz 1971: 7) kritisch zu überprüfen und zu diskutieren. Auch die weitere Generalisierung der empirischen Interpretationen in der sinngenetischen und soziogenetischen oder relationalen Typenbildung setzt einen konstanten Austauschprozess in einer Forschungswerkstatt voraus. Dieser Prozess beinhaltet einen „fremden Blick“ (Reim/Rieman 1997: 229) auf das Material, ein Reziprozitätsverhältnis, Wertschätzung und Kritik im Prozess der gemeinsamen Erkenntnisbildung (vgl. Hoffmann/Pokladek 2010: 197).
Die Werkstatt wird von Prof.*in Dr. phil. Heike Radvan betreut und von Prof. Dr. Arnd-Michael Nohl begleitet.
Cremers, Michael et al. (2020): Umgang mit Heterogenität. Geschlechtsbezogene Zusammenarbeit in Kindertagesstätten, OpladenBohnsack, Ralf et al. (2018): Soziale Arbeit und Dokumentarische Methode – Methodologische Aspekte und empirische Erkenntnisse, Opladen/Berlin/TorontoHoffmann, Britt/Pokladek, Gerlinde (2010): Das spezielle Arbeitsbündnis in qualitativen Forschungswerkstätten. Merkmale und Schwierigkeiten aus der Perspektive der TeilnehmerInnen, ZQF 10. Jg., Heft 2/2010, S. 197-217Krüger, Heinz Hermann/Pfaff, Nicole (2010): Zum Umgang mit rechten und ethnozentrischen Orientierungen an Schulen in Sachsen-Anhalt. Triangulation von Gruppendiskussionsverfahren in einem quantitativen Jugendsurvey, in: Bohnsack et al. (Hg.): Die Gruppendiskussion in der Forschungspraxis, Opladen/Farmington Hills, S. 59–74 Kutscher, Nadia (2010): Die Rekonstruktion moralischer Orientierung von Professionellen auf der Basis von Gruppendiskussionen, in: Bohnsack et al. (Hg.): Die Gruppendiskussion in der Forschungspraxis, Opladen/Farmington Hills, S. 189-202 Kubisch, Sonja (2014a): Habitussensibilität und Habitusrekonstruktion. Betrachtungen aus der Perspektive der dokumentarischen Methode am Beispiel Sozialer Arbeit, in: Sander, Tobias (Hg.): Habitus-Sensibilität. Neue Anforderungen an professionelles Handeln, Wiesbaden, S. 103-133Kubisch, Sonja (2014b): Spielarten des Rekonstruktiven. Entwicklungen von Forschung in der Sozialen Arbeit, in: Mührel, Eric/Birgmeier, Bernd (Hg.): Perspektiven sozialpädagogischer Forschung. Methodologien –Arbeitsfeldbezüge –Forschungspraxen. Wiesbaden, S. 155-172Nohl, Arnd-Michael (2017): Interview und Dokumentarische Methode. Anleitung zur Forschungspraxis, WiesbadenRadvan, Heike (2010): Pädagogisches Handeln und Antisemitismus- Eine empirische Studie zu Beobachtungs- und Interventionsformen in der offenen Jugendarbeit, Bad HeilbrunnReim/Riemann (1997): Die Forschungswerkstatt. Erfahrungen aus der Arbeit mit Studentinnen und Studenten der Sozialarbeit/Sozialpädagogik und der Supervision, in: Jakob/Wensierski (Hg.): Rekonstruktive Sozialpädagogik. Konzepte und Methoden sozialpädagogischen Verstehens in Forschung und Praxis. Weinheim/München, S. 223–238Riemann, Gerd (2011): „Grounded theorizing“ als Gespräch – Anmerkungen zu Anselm Strauss, der frühen Chicagoer Soziologie und der Arbeit in Forschungswerkstätten. In: Mey, Günther/Mruck, Katja (Hrsg.): Grounded Theory Reader. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften, S. 405–426Schütz, Alfred (1971): Gesammelte Aufsätze, Bd. 1: Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den HaagSchütze, Fritz (1993): Die Fallanalyse: Zur wissenschaftlichen Fundierung einer klassischen Methode der Sozialen Arbeit, in: Rauschenbach, Thomas et al. (Hg.): Der sozialpädagogische Blick: lebensweltorientierte Methoden in der Sozialen Arbeit, WeinheimStützel, Kevin (2019): Jugendarbeit im Kontext von Jugendlichen mit rechten Orientierungen. Rekonstruktiv-praxeologische Perspektiven auf professionelles Handeln, Wiesbaden