Die Monitoringstelle der BTU Cottbus-Senftenberg dokumentiert Vorfälle (extrem) rechter Raum- und Einflussnahme sowie Fälle von Diskriminierung im Hochschulkontext.
Mit der Formulierung ‚extrem rechts‘ orientieren wir uns an einer Definition, die eine Alternative zu topologischen Konzepten (Hufeisenansatz, Extremismustheorie) eröffnet, mit denen bedrohliche politische ‚Ränder‘ und gleichzeitig eine ‚gute Mitte‘ der Gesellschaft konstruiert werden. In Abgrenzung zu dieser verkürzenden Erklärung1, wird hier unter Rechtsextremismus die Gesamtheit von undemokratischen, antipluralistischen, geschichtsrevisionistischen und autoritaristischen Einstellungen, Verhaltensweisen, politischen Aktivitäten und Aktionen von (nicht-)organisierten Einzelpersonen und Gruppen gefasst, die eine Ungleichheit von Menschen proklamieren und entsprechende Macht- und Herrschaftsverhältnisse etablieren bzw. verstärken2. Wir schreiben das Wort „extrem“ in Klammern, wenn wir deutlich machen, dass es sich um Personen(gruppen) handelt, deren Einstellungen sowohl als rechtspopulistisch (und insofern weniger ideologisch verhärtet) sowie rechtsextrem einzuordnen sind. Extrem rechte Ideologie legitimiert Gewalt, bereits die Vorstellung einer Ungleichwertigkeit von Menschen impliziert dies. So zählt die Amadeu Antonio Stiftung für den Zeitraum 1990 – heute (Stand: 15.08.2023) 219 Todesopfer rechter Gewalt sowie 16 weitere Verdachtsfälle3.Einige der zentralen Bestandteile der Ideologie des modernen Rechtsextremismus sollen im Folgenden erläutert werden. Diese Einstellungen und damit verbundene Formen von Diskriminierung werden von vielen Menschen unterschiedlichster Zugehörigkeit überall in der Gesellschaft vertreten, sie sind nicht auf einen ‚rechten Rand‘ begrenzt.
1 Zur Kritik vgl. Butterwegge, Christoph (2011): Linksextremismus = Rechtsextremismus? Über die Konsequenzen einer falschen Gleichsetzung. In: Birsl, Ursula (Hg.): Rechtsextremismus und Gender. Opladen & Farmington Hills, S. 29-42.; Bobbio, N. (1996). Left and right. The University of Chicago Press.
2 Jaschke, Hans-Gerd 2001 [1994]: Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit. Begriffe. Positionen. Praxisfelder, 2. Aufl., Opladen. S. 30.; Virchow, Fabian (2016): „Rechtsextremismus“: Begriffe, Forschungsfelder, Kontroversen. In: Häusler, Alexander/Virchow, Fabian/Langebach, Martin (Hg.): Handbuch Rechtsextremismus, Wiesbaden, S. 5–41. Hier: S. 13-17.
3 Amadeu Antonio Stiftung: Todesopfer rechter Gewalt https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/todesopfer-rechter-gewalt/
Wir erheben mit der Monitoringstelle verschiedene Formen von Diskriminierung sowie Vorfälle, die wir als rechtsextreme Erscheinungsformen definieren. Wir haben uns aus mehreren Gründen für diese breite Form der Erhebung entschieden:
Diskriminierung basiert – zunächst semantisch gesehen – auf einer Differenzsetzung zwischen einer „Wir“-Gruppe und einer Gruppe, die als „die Anderen“ konstruiert wird. Mit der zugeschriebenen Unterschiedlichkeit ist eine differente Wertigkeit verbunden: Während die Gruppe der „Anderen“ zumeist abgewertet wird, kann sich die „Wir-Gruppe“ mit verschiedenen Attributen aufwerten. Verbunden mit diesen semantischen Abwertungen sind Benachteiligungen auf struktureller und institutioneller Ebene sowie im Alltag von Gesellschaft (Machtasymmetrien, sozioökonomische Ungleichheiten, ungleiche Chancen für Anerkennung), in vielen Fällen historisch gewachsen1.
Betrachtet man Ergebnisse der Einstellungsforschung2, so zeigt sich, dass viele Menschen diskriminierende Aussagen vertreten bzw. den entsprechenden Items zustimmen. Damit ist jedoch nicht zwangsläufig ein geschlossenes rechtes Weltbild verbunden. Von extrem rechten Einstellungen bzw. einem rechtsextremen Weltbild spricht man erst, wenn Menschen einer Mehrzahl diskriminierenden Items, undemokratischen, geschichtsrevisionistischen und autoritaristischen Aussagen zustimmen3. Insofern kommt Rechtsextremismus nicht ohne diskriminierende Einstellungen aus. Umgekehrt betrachtet, gibt es jedoch keinen kausalen Zusammenhang zwischen der Zustimmung zu einzelnen diskriminierenden Einstellungen und Rechtsextremismus.
1 Scherr, Albert/El-Mafaalani, Aladin/Yüksel, Gökçen (Hg.) (2017): Handbuch Diskriminierung, Wiesbaden: Springer VS.; Scherr, Albert (2017): Soziologische Diskriminierungsforschung, in: Scherr, Albert/El-Mafaalani, Aladin/Yüksel, Gökçen (Hg.) (2017): Handbuch Diskriminierung, Wiesbaden: Springer VS, S. 39 – 48.; Gomolla, Mechtild (2017): Direkte und indirekte, institutionelle und strukturelle Diskriminierung, in: Scherr, Albert/El-Mafaalani, Aladin/Yüksel, Gökçen (Hg.) (2017): Handbuch Diskriminierung, Wiesbaden: Springer VS, S. 133 – 156.
2 Vgl. zuletzt Decker, Oliver/Kiess, Johannes/ Heller, Ayline/Brähler, Elmar (Hg.) (2022): Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten, Neue Herausforderungen – alte Reaktionen? Leipziger Autoritarismus Studie 2022, Veröffentlichung in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und der Otto Brenner Stiftung, Giessen: Psychosozial.
3 Decker, Oliver/Kiess, Johannes/Schuler, Julia/Handke, Barbara/Pickel, Gerd & Elmar Brähler (2020): Die Leipziger Autoritarismus Studie 2020: Methode, Ergebnisse und Langzeitverlauf, in: Decker, Oliver/Brähler, Elmar (Hg.): Autoritäre Dynamiken. Neue Radikalität – alte Ressentiments, Veröffentlichung erfolgt in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Böll-Stiftung und der Otto Brenner Stiftung, Giessen: Psychosozial, S. 27 – 88., hier S. 50.
Bestandteile (extrem) rechter Ideologie und Diskriminierungsformen
Extrem rechte Akteure versuchen regional und bundesweit im öffentlichen Raum und in entsprechenden Debatten Anschlussflächen für ihre Ideologien zu eröffnen und deren Normalisierung voranzutreiben. Diese Versuche der Raumnahme zeigen sich auch in Cottbus und damit auch im Kontext der Hochschule. Die „zunehmende Normalisierung von autoritaristischen und extrem rechten Aussagen im öffentlichen Diskurs"1wirkt als Katalysator für gewaltvolle und diskriminierende Handlungen in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen. Auch in Cottbus berichten Betroffene von einer Vielzahl solcher Erfahrungen2.
Der Rechtsextremismusforscher Wilhelm Heitmeyer definiert extrem rechte Raum- und Einflussnahmen als Bestandteil einer strukturierten Eskalationsstrategie, die darauf abzielt, Sozialräume und Institutionen zunehmend zu dominieren und extrem rechte Ideologien dauerhaft zu normalisieren. Heitmeyer unterscheidet vier Phasen. Initial seien Provokationsgewinne: extrem rechte Akteure demonstrieren ihren Machtanspruch, z.B. durch physische Präsenz im öffentlichen Raum, durch Graffiti, Plakat- und Stickeraktionen. All jene, die im extrem rechten Weltbild als ‚unerwünscht‘ gelten, erfahren die rechten Hegemoniebestrebungen zunehmend in Form von Gewalt und Verdrängung. Gelingt es den rechten Akteuren, andere Gruppen dauerhaft aus den beanspruchten Räumen zu verdrängen und Angstzonen zu etablieren, sind aus Räumungsgewinnen sogenannte Raumgewinne geworden. Ohne Intervention einer kritischen Zivilgesellschaft wird die rechte Hegemonie schließlich zur neuen Normalität.3
Die Monitoringstelle der BTU dokumentiert verschiedene Bereiche extrem rechter Raum- und Einflussnahme im Kontext der Campus der BTU. Neben offensichtlichen Mobilisierungsversuchen durch Plakate, Sticker oder Raumnahme- und Wortergreifungsstrategien bei Veranstaltungen geht es dabei auch um weniger offensichtliche Effekte solcher Vorgehensweisen.
Situationen von Alltagsdiskriminierung, (extrem) rechter Bedrohung und Gewalt
Der Anteil internationaler Studierender an der BTU liegt aktuell bei 40%. Cottbus ist international als innovativer Studienort bekannt. Internationale Studierende treffen dabei aber auf eine Stadtgesellschaft, „in der (extrem) rechte Provokationen im Alltag häufig auftreten und in vielen Fällen unwidersprochen bleiben. In den vergangenen Jahren gab es mehrere Vorfälle, bei denen Studierende of Color von rassistischer und extrem rechter Gewalt in der Stadtgesellschaft und auf dem Campus betroffen waren“4 oder Personen angegriffen wurden, die als politisch „links“ oder queer gelesen wurden5. Studierende of Color berichten zudem von Diskriminierungserfahrungen im Kontakt mit Behörden und Ämtern. „Als spezifisches Problem werden Polizeikontrollen am Hauptbahnhof benannt, die als Racial Profiling zu kritisieren sind und Folgen für Betroffene haben können, wie zum Beispiel das Verpassen wichtiger Termine an der Universität.“6 Hier zeigen sich auf struktureller Ebene Effekte extrem rechter Raum- und Einflussnahmen in Cottbus.
Mobilisierungsversuche im öffentlichen Raum und auf den Campus
Im Kontext der Campus der BTU zeigen sich (extrem) rechte Raum- und Einflussnahme in unterschiedlichen Formen. So waren in der Vergangenheit „Mobilisierungsversuche in Form von Stickern und Flyern, das Tragen von Kleidungsmarken extrem rechter Modelabel sowie das widerrechtliche Abbilden eines Campus-Geländes im Werbematerial einer entsprechenden Firma“7 zu beobachten. Zudem versuchten „Neonazi-Kader durch ihr Auftreten auf öffentlichen Veranstaltungen auf dem BTU-Gelände, Hegemonieansprüche zu signalisieren.“8 Vereinzelt waren auch Versuche regionaler extrem rechter Akteure zu verzeichnen, „Angehörige der BTU online zu kontaktieren, um ihre Ideologie zu verbreiten.“9
Der Bereich der Lehre
Die Herausforderungen in der Lehre sind unterschiedlicher Art und erfordern jeweils spezifische Umgangsweisen. Der weitaus größte Teil betrifft nicht intendierte, alltagsdiskriminierende Aussagen von Studierenden. Sie erfolgen meist unbedacht, sind nicht Ausdruck eines gefestigten Weltbildes und als „gedankliche Suchbewegungen oder auch als Einstellungen mehr oder weniger leicht irritier- und hinterfragbar […]. Entscheidend hierbei ist, dass das Lehrpersonal entsprechend sensibilisiert ist, um solchen alltagsdiskriminierenden Aussagen im Rahmen der Lehre begegnen zu können.“10 Demgegenüber kann es aber auch zu intendierten diskriminierenden Aussagen kommen, in denen sich politische Orientierungen äußern, „die im Sinne von Überzeugungen stärker verfestigt sind“11. Intendierte diskriminierende Aussagen „sind nicht ohne Weiteres hinterfragbar, vielmehr braucht es eine längerfristige Thematisierung im Lehrgespräch, um einen Lernprozess zu ermöglichen.“12 Der quantitativ kleinste Teil, der für die Lehre aber eine besondere Herausforderung bedeutet, betrifft Personen, die ein weitgehend geschlossen extrem rechtes Weltbild aufweisen und/oder extrem rechts organisiert sind. Hiermit sind „Probleme und Fragen verbunden, die bislang kaum hochschulöffentlich thematisiert werden und zu deren Beantwortung es fachliche Debatten sowie ein Monitoring und Forschung bedarf.“13 Im Rahmen des Handlungskonzepts gegen extrem rechte Einflussnahme an der BTU Cottbus-Senftenberg sind die skizzierten Differenzierungen sowie die Herausforderungen für die Lehre ausführlich beschrieben und mit didaktischen Handlungsempfehlungen verbunden worden.
Insgesamt gehe es darum, immer wieder neu eine Lern- und Lehratmosphäre zu schaffen, in der wissenschaftliche Kontroverse möglich ist:
„Universität ist ein Raum, in dem kontroverse Diskussionen stattfinden. Ist dies nicht mehr möglich, sehen wir als Lehrende unsere Aufgabe darin, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, dies (wieder-) herzustellen und eine reflexive, diskussionsfreudige und diskriminierungskritische Lernatmosphäre für alle Studierenden zu ermöglichen. Dabei müssen wir sicherstellen, dass von Ausgrenzung betroffene und bedrohte Studierende den größten Schutz erfahren, indem wir sie unterstützen und deutlich zeigen, dass wir hierzu jederzeit bereit sind.“14
1 Radvan, Heike/Dyhr, Susanne (2023): Handlungskonzept gegen (extrem) rechte Einflussnahme an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Sensibilisiert, Positioniert, Engagiert. S. 10. https://www-docs.b-tu.de/presse/public/Handlungskonzept-gegen(extrem)rechte-Einflussnahme-an-der-BTU_RZ.pdf
2 Raab, Michael/Radvan, Heike (2023): „Man muss lernen, sich zu bewegen“. Erfahrungen verschiedener Betroffenengruppen mit rechter Dominanz in Cottbus; Handlungsstrategien und Umgangsweisen. In: Botsch, Gideon/Köbberling, Gesa/Schulze, Christoph (2023): Rechte Gewalt in Brandenburg. Reihe Potsdamer Beiträge zur Antisemitismus- und Rechtsextremismusforschung der Emil Julius Gumbel Forschungsstelle der Universität Potsdam. (im Erscheinen)
3 Heitmeyer, Wilhelm(1999): Sozialräumliche Machtversuche des ostdeutschen Rechtsextremismus, in: Peter Kalb/Karin Sitte/Christian Petry (Hg.): Rechtsextremistische Jugendliche – was tun? Weinheim und Basel 1999, S. 47 – 79, hier S. 67–71.
4 Radvan, Heike/Dyhr, Susanne (2023): Handlungskonzept gegen (extrem) rechte Einflussnahme an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Sensibilisiert, Positioniert, Engagiert. S. 10. https://www-docs.b-tu.de/presse/public/Handlungskonzept-gegen(extrem)rechte-Einflussnahme-an-der-BTU_RZ.pdf
5 Opferperspektive (2023): Hintergrundpapier. Schwerpunkte rechter Gewalt in Brandenburg verlagern sich. https://www.opferperspektive.de/wp-content/uploads/2023/03/opp_hintergrundpapier_2022.pdf
6 Ebd., S. 11.
7 Ebd., S. 12.
8 Ebd.
9 Ebd.
10 Radvan, Heike/Dyhr, Susanne (2023): Didaktische Handlungsempfehlungen. Anhang Handlungskonzept gegen (extrem) rechte Einflussnahme an der Brandenburgischen Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. Sensibilisiert, Positioniert, Engagiert. S. 39.
11 Ebd.
12 Ebd.
13 Ebd.
14 Stellungnahme Institut SozA BTU Cottbus (26.02.2020): Der Umgang mit rechtsextrem organisierten Studierenden: Stellungnahme von Lehrenden des Instituts für Soziale Arbeit aus aktuellem Anlasshttps://www-docs.b-tu.de/soziale-arbeit-ba-fh/public/aktuelles/2020/Stellungnahme/Stellungnahme-Institut-SozA%20BTU-Cottbus-26.2.20-mit-Unterschriften.pdf
Soziale Herkunft, das heißt die Umstände, unter denen Menschen aufwachsen, bestimmt in wesentlichem Maße, wie sie später werden leben können. Soziale Herkunft nimmt wesentlich Einfluss darauf, welche Bildungschancen Menschen haben und welchen Berufen sie später nachgehen werden. Dabei geht es nicht allein um monetäres Kapital, das es Menschen ermöglicht, gute Schulen zu besuchen, Nachhilfestunden in Anspruch zu nehmen und – überhaupt bzw. mit ausreichend zeitlichen Ressourcen – zu studieren. Es geht auch um die Fragen, ob Menschen auf karrierefördernde Beziehungen der Eltern zurückgreifen können, ob sie im Verlauf von Kindheit und Jugend gelernt haben, wie man sich in bestimmten sozialen Kontexten – den bestehenden Normen entsprechend - zu verhalten habe, oder wie es aufgrund biografischer Erfahrungen um das eigene Selbstbewusstsein bestellt ist.
„Soziale Herkunft entscheidet immer noch maßgeblich über Bildungserfolg“1, so der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft e. V., der die Chancen höherer Bildung für Kinder aus Nichtakademikerfamilien folgendermaßen quantifiziert: Von 100 Nichtakademikerkindern beginnen 27 ein Studium, 11 davon erwerben einen Masterabschluss, 2 in der Folge einen Doktortitel. Dem gegenüber stehen 79 von 100 Akademikerkindern, die ein Studium beginnen, von denen 43 einen Masterabschluss erwerben und 6 schließlich promovieren.2
Die gesellschaftliche Marginalisierung armer und einkommensbenachteiligter Klassen provoziert zudem Ressentiments. Sie werden als unzivilisiert und weniger intelligent diffamiert, beschimpft, ausgelacht und ausgegrenzt. Dies dient nicht allein der Abwertung der Betroffenen, vielmehr werden klassistische Klischees gerade in kapitalistischen Krisenzeiten bemüht, um soziale Ungleichheiten zu legitimieren. Dabei verschränkt sich Klassismus häufig mit rassistischer Diskriminierung. Wilhelm Heitmeyer spricht von der Entwicklung einer rohen Bürgerlichkeit, „die sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den Maßstäben der kapitalistischen Nützlichkeit, der Verwertbarkeit und Effizienz orientiert und somit die Gleichwertigkeit von Menschen sowie ihre psychische wie physische Integrität antastbar macht“3. Rohe Bürgerlichkeit gehe einher mit einer Tendenz zum Rückzug aus der gesamtgesellschaftlichen Solidargemeinschaft sowie einer Entkultivierung des Bürgertums, das teilweise versuche, „eigene soziale Privilegien durch die Abwertung und Desintegration von als „nutzlos“ etikettierten Menschen zu sichern oder auszubauen“4.
Hochschulen kommt eine besondere Bedeutung bei der Bekämpfung von Auswirkungen des strukturellen Klassismus in der Gesellschaft zu. Ein diskriminierungskritischer Umgang, Förder- und Unterstützungsprogramme auf verschiedenen Ebenen aber auch zuallererst die kritische Anerkennung des Problems können mögliche Antworten sein.
1 Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft (Hg.) (2022): Hochschulbildung in der Transformation. Ein Fazit nach 10 Jahren Bildungsinitiative. S. 13. https://www.hochschulbildungsreport.de/sites/hsbr/files/hochschul-bildungs-report_abschlussbericht_2022.pdf
2 Ebd.
3 Wilhelm Heitmeyer (Hg.) (2012): Deutsche Zustände 10. Suhrkamp. S. 35.
4 Ebd.
Rassismus ist eine Ideologie, die Menschen aufgrund der ihnen zugeschriebenen Herkunft, Kultur oder Religionszugehörigkeit, wegen ihres Aussehens oder ihres Namens in Gruppen einteilt, diese hierarchisiert und spezifisch attribuiert. Dabei wird meist grundlegend zwischen der (nationalen) Eigen- sowie der bzw. den Fremdgruppen unterschieden, zwischen einem „Wir“ und „den Anderen“. Letztere werden als grundlegend verschieden und nicht zugehörig betrachtet sowie meist abgewertet.1
Rassismus, also die Einteilung von Menschen in (hierarchisierte) „Rassen“, ist eine von Menschen gemachte Ideologie, die wissenschaftlich längst widerlegt ist. Sie ist während der Kolonisierung im 16. Jahrhundert entstanden, als europäische BefürworterInnen des Sklavenhandels ihre verbrecherische Praxis damit rechtfertigten, dass die versklavten und entrechteten Menschen unterentwickelt und naturverhaftet seien und dass ihnen Fortschritt und Zivilisation mit Gewalt beigebracht werden müsse.2
Bis heute wirkt Rassismus als gesellschaftliches Strukturprinzip, das den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen (z.B. über Aufenthaltstitel oder Staatsbürgerschaft) steuert und Ungleichheiten legitimiert. Insbesondere Menschen mit eigenen Migrationserfahrungen haben schlechtere Bildungschancen3, sind überdurchschnittlich oft prekär beschäftigt4 und haben einen schlechteren Zugang zur Gesundheitsversorgung5. Die Perspektiven und Lebensrealitäten von Menschen mit Migrationserbe, Schwarzen Menschen und People of Color sind in Politik, Kultur und Medien oft unterrepräsentiert. Sie erfahren alltäglichen Rassismus in Form von direkten verbalen und physischen Angriffen sowie strukturelle Benachteiligung beispielsweise im Umgang mit staatlichen Institutionen oder auf dem Wohnungsmarkt6.
Hochschulen haben eine Verantwortung bei der Zurückdrängung und Verunmöglichung von Auswirkungen des strukturell zu verortenden Rassismus in unserer Gesellschaft. Ein rassismuskritischer Umgang, Förder- und Unterstützungsprogramme für Marginalisierte aber auch zuallererst die kritische Anerkennung des Problems können mögliche Antworten sein.
1 Amadeu Antonio Stiftung (2019): Rassismus – Was ist das? https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/rassismus/was-ist-rassismus/
2 Ebd.
3 Sebastian Otten, Julia Bredtmann, Christina Vonnahme, Christian Rulff (2020/2021) Kurzstudie: Rassismus in der Schule https://www.rassismusmonitor.de/kurzstudien/rassismus-in-der-schule/; Autorengruppe Bildungsberichterstattung (2020): Bildung in Deutschland 2020 https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bildung-Forschung-Kultur/Bildungsstand/Publikationen/Downloads-Bildungsstand/bildung-deutschland-5210001209004.pdf?__blob=publicationFile
4 Samir Khalil, Almuth Lietz und Sabrina J. Mayer (2020): Systemrelevant und prekär beschäftigt: Wie Migrant*innen unser Gemeinwesen aufrechterhalten https://www.dezim-institut.de/fileadmin/user_upload/Demo_FIS/publikation_pdf/FA-5008.pdf
5 Andrea Rumpel, Rebekka Schalley, Till Behnke (2020/2021): Kurzstudie Geflüchtete im Gesundheitssystem: https://www.rassismusmonitor.de/kurzstudien/gefluechtete-im-gesundheitssystem/
6 Antidiskriminierungsstelle des Bundes (2020): Rassistische Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/Umfragen/umfrage_rass_diskr_auf_dem_wohnungsmarkt.pdf?__blob=publicationFile&v=4
Es gibt unterschiedliche Bezeichnungen für den Rassismus, der sich spezifisch gegen Rom*nja und Sinti*zze richtet, bzw. gegen Menschen, die als diesen Gruppen zugehörig betrachtet werden. Der wohl bekannteste Begriff, der des Antiziganismus, wird aber von vielen kritisiert, da er rassistische Beleidigungen reproduziere. Der Begriff Antiromaismus reagiert auf diese Kritik, in ihm fehle aber die Benennung der Sinti*zze. Der Begriff Gadjé-Rassismus verändert die Perspektive und benennt, von wem Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze ausgeht: Gadjé ist ein Wort aus dem Romanes und bezeichnet u.a. Nicht-Roma. Sowohl der Begriff des Gadjé-Rassismus als auch der des Antiziganismus betonen, dass es bei dem umschriebenen Phänomen um Stereotype und Sinngehalte gehe, die „nur sehr indirekt etwas mit Roma und Sinti zu tun haben, vielmehr aber mit der Vorstellungswelt der Mehrheitsbevölkerung“1 die diese Ressentiments artikuliere.2
Der Gadjé-Rassismus hat eine lange Geschichte, die sich im Nationalsozialismus zur offenen Verfolgung und Vernichtung zuspitzte. Das Romanes-Wort Porajmos bezeichnet den NS-Genozid an den europäischen Sinti*zze und Rom*nja.
Aber auch heute noch erfahren Rom*nja und Sinti*zze europaweit massive Diskriminierung. Verbale und physische Angriffe sowie strukturelle und institutionelle Benachteiligung gehören auch in Deutschland zu ihrem Alltag. Aufgrund der langanhaltenden Diskriminierungsgeschichte sind viele von Gadjé-Rassismus Betroffene in schwierigen wirtschaftlichen Situationen und haben beispielsweise Probleme beim Zugang zu Bildung, Arbeit oder Wohnraum. Hier zeigt sich ein deutlicher Zusammenhang mit Diskriminierung aufgrund sozialer Herkunft und anderen Formen von Rassismus.3
Ungeachtet ihrer tatsächlichen Heterogenität werden Rom*nja und Sinti*zze als homogene Gruppe imaginiert. Sie werden als identitäts- und heimatlos, disziplinlos und arbeitsscheu diffamiert. Ihnen wird unterstellt, „dass sie die zivilisatorischen Prinzipien wie Eigentum, Gesetze und Lohnarbeit, die zur Verteilung von Gütern vorgesehen sind, nicht anerkennen und sich nicht an sie halten. Unterstellt wird folglich eine vorzivilisatorische – eben archaische – Ausformung des „Parasitären“. Dies ist der Kern der oben beschriebenen Vorurteile und Stereotype.“4
Bildungseinrichtungen generell, Hochschulen im Besonderen, haben eine besondere Verantwortung hinsichtlich der Auswirkungen von Gadjé Rassismus auf die davon Betroffenen. So verweisen mehrere Studien auf eine deutliche Bildungsbenachteiligung von jungen Rom*nja und Sinti*zze. Verweisen möchten wir auf entsprechende Empfehlungen, die zum Beispiel die Autor*innen des Zehnjahresplans zur Bekämpfung von Antiziganismus auf EU Ebene bereits vor 3 Jahren gaben5. Ein diskriminierungskritischer Umgang, Förder- und Unterstützungsprogramme auf verschiedenen Ebenen aber auch zuallererst die kritische Anerkennung des Problems können mögliche Antworten sein.
1 Markus End (2011): Bilder und Sinnstruktur des Antiziganismus. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/33277/bilder-und-sinnstruktur-des-antiziganismus/
2 Amadeu Antonio Stiftung (2019): Antiziganismus – Rassismus gegen Sinti*zze und Rom*nja https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/gruppenbezogene-menschenfeindlichkeit/antiziganismus-rassismus-gegen-sintizze-und-romnja-was-ist-das/
3 Ebd.
4 Markus End (2011): „Zigeuner“ vs. „Bauer“. Die sozialen Dimensionen des modernen Antiziganismus https://igkultur.at/theorie/zigeuner-vs-bauer-die-sozialen-dimensionen-des-modernen-antiziganismus
5 European Commission (2020): EU Roma strategic framework for equality, inclusion and participation for 2020 – 2030 https://commission.europa.eu/system/files/2021-01/eu_roma_strategic_framework_for_equality_inclusion_and_participation_for_2020_-_2030_0.pdf; Vgl. auch Zentralrat Deutscher Sinti und Roma (2020): Strategischer EU-Rahmen für Gleichstellung, Inklusion und Partizipation von Sinti und Roma für 2020-2030. Hintergrund- und Positionspapier des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma zur Umsetzung in Deutschland. https://zentralrat.sintiundroma.de/arbeitsbereiche/internationale-arbeit/eu-strategie-2030/
Sexismus ist eine Ideologie, die die Menschheit in zwei dichotome Geschlechter einteilt: Männern und Frauen werden geschlechtsspezifische Eigenschaften und Fähigkeiten, Tätigkeiten und Lebensbereiche zugeschrieben. Die somit konstruierten männlichen und weiblichen Subjekte (bzw. die männlich oder weiblich konnotierten Eigenschaften und Tätigkeiten) werden ungleich bewertet. Zum Beispiel denken einige Leute, dass Frauen bestimmte Aufgaben erledigen und Männer andere übernehmen sollten. "Typisch weibliche" Tätigkeiten werden als weniger wertvoll betrachtet und Jungen und Männer lernen von klein auf, sich nicht "weiblich" oder "schwul" zu verhalten, da sie sonst abgewertet werden. Sexismus als strukturelle geschlechtsspezifische Benachteiligung hat vor allem negative Auswirkungen auf Frauen, die im Durchschnitt nach wie vor weniger verdienen als Männer, den Großteil familiärer und außerfamiliärer, un- oder unterbezahlter Sorgearbeiten verrichten und aufgrund von (reproduktionsbedingten) Brüchen in der Erwerbsbiografie häufiger von Altersarmut bedroht sind.1
Das, was heute als traditionelles Geschlechterverhältnis bezeichnet wird, ist nicht viel älter als 200 Jahre. Es entwickelte sich im Zuge der sozialen, politischen und ökonomischen Veränderungen zur Zeit der Industrialisierung. Die Ideen der Aufklärung versprachen die Gleichheit aller Menschen, die damals vorherrschende Familienwirtschaftsweise kam an ein Ende, wodurch die bis dato traditionelle Form der Ehe und Familie in Frage gestellt wurde. In Reaktion darauf propagierte das aufkommende Bürgertum seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ein modernisiertes Geschlechterbild. Mann und Frau wurde dabei eine jeweils spezifische Natur, mit je eigenen Charaktereigenschaften unterstellt. Sie wurden als grundsätzlich verschieden gezeichnet, wobei das Männliche als aktiv, schaffend, abstrakt-denkend, das Weibliche als der passive, erhaltende, sich fügende Part konzipiert wurde. Die neu entstehenden, voneinander abgetrennten gesellschaftlichen Sphären – Öffentlichkeit und Privatheit – wurden entsprechend vergeschlechtlicht: Der Mann sollte für das Wirken in der Welt, für Erwerbsarbeit, Politik, Justiz und staatliche Verwaltungsaufgaben zuständig sein, der Platz der Frau hingegen in der privaten Sphäre, ihr Zuständigkeitsbereich also die Familie und der Haushalt sein.2 Feministische Bewegungen haben deutlich gemacht, dass eine solche geschlechtliche Arbeitsteilung Frauen massiv benachteiligt und ihre geschlechtliche und sexuelle Selbstbestimmung einschränkt.3
Homo-, Queer und Transfeindlichkeit bezeichnet besondere Formen des Sexismus. Homofeindlichkeit richtet sich gegen Menschen, deren Begehren nicht der als Norm gesetzten Heterosexualität entspricht, also zum Beispiel gegen Frauen die Frauen lieben. Queerfeindlichkeit richtet sich gegen Menschen, die sich nicht den zugewiesenen Kategorien von Frau- und Mann-Sein zuordnen wollen und/oder können und sich zum Beispiel als nonbinär verstehen. Transfeindlichkeit richtet sich gegen all jene, die sich mit dem Geschlecht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde, nicht identifizieren. Homo-, Queer und Transfeindlichkeit bezeichnet eine gewaltvolle Haltung – in Denken, Wort und Tat – gegenüber all jenen, die als sexuell oder geschlechtlich deviant wahrgenommen werden. Dieser Haltung liegt eine repressiv-normative Vorstellungswelt zugrunde, in der die Menschheit in zwei dichotome Geschlechter eingeteilt wird – in Mann und Frau –, deren heterosexuelle Vereinigung zu einer Art anthropologischen Konstante, zu einem ewig sich wiederholenden ontogenetischen Telos verklärt wird. Alles, was sich außerhalb dessen bewegt, wird als unnatürlich und pervertiert diffamiert. Wer dem nicht entspricht, wer homosexuell liebt oder von traditionellen Geschlechterstereotypen abweicht, wird häufig ausgegrenzt, beschimpft oder sogar körperlich attackiert.4
Homosexuelle und transidente Menschen erleben zudem strukturelle Benachteiligung im Gesundheitswesen, in Bildung und Ausbildung, auf dem Wohnungs- oder Arbeitsmarkt. So geben laut einer umfangreichen Studie der EU-Grundrechteagentur aus dem Jahr 2020 beispielsweise 40% der Trans*Befragten an, in den vorangegangenen 12 Monaten von Personal in Schule oder Universität diskriminiert worden zu sein. Auch in anderen Lebensbereichen sind die Zahlen alarmierend hoch.5
1 Amadeu Antonio Stiftung (2019): Sexismus. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2019/01/Flyer_GMF_Sexismus.pdf
2 Karin Hausen (1976): Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« – Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben. https://archive.org/details/HausenPolarisierungDerGeschlechtscharaktere
3 Andrea Trumann (2002): Feministische Theorie. Schmetterling Verlag.
4 Amadeu Antonio Stiftung (2019): Homo- und Trans*feindlichkeit. https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2019/01/Flyer_GMF_Homo_Trans.pdf
5 European Union Agency For Fundamental Rights (FAR) (2020): A long way to go for LGBTI equality. https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2020-lgbti-equality-1_en.pdf; Lesben- und Schwulenverband Deutschland (2020): Erfahrungen von Trans*menschen in Deutschland.https://www.lsvd.de/de/ct/2628-erfahrungen-von-trans-menschen-in-deutschland
Antisemitismus ist Feindschaft gegen Juden*Jüdinnen oder jüdische Einrichtungen, gegen das Judentum als Ganzes bzw. gegen all das, was als jüdisch identifiziert wird. Antisemitismus hat eine jahrhundertelange Geschichte und unterschiedliche Erscheinungsformen. Eine der frühesten Formen war der christlich geprägte Antijudaismus, dessen Spuren sich auch noch in gegenwärtigen Antisemitismen finden. Im 18./19. Jahrhundert entstand der moderne Antisemitismus als säkularisierte Eschatologie, in dem Juden*Jüdinnen als Wesen allen Übels der Moderne konstruiert wurden. Die Verschwörungsfantasie der im zaristischen Russland entstandenen „Protokolle der Weisen von Zion“ popularisierte eine bis heute wirkmächtige Grundform antisemitischer Ideologie: ein konspirationistisch-manichäisches Weltbild, in dem das (jüdisch apostrophierte) Böse sich gegen die Menschheit verschworen hat, um alles Gute zu zerstören und die Welt der eigenen Herrschaft zu unterwerfen. Bis heute variieren viele Verschwörungserzählungen diese Form.
Antisemitismus drückt sich in Ausgrenzung, Verfolgung und Vertreibung, bis hin zur Ermordung von jüdischen Menschen aus und gipfelte im eliminatorischen Antisemitismus des Nationalsozialismus, der zur Shoah, der systematischen Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen*Juden, führte.
Im sekundären bzw. dem sogenannten Schuldabwehr-Antisemitismus zeigt sich seit 1945 die Ablehnung von Verantwortung für den Zivilisationsbruch. So stimmten im Jahr 2022 61,3 % der im Rahmen der Autoritarismus-Studie der Universität Leipzig Befragten der Aussage zu:
„Wir sollten uns lieber gegenwärtigen Problemen widmen als Ereignissen, die mehr als 70 Jahre vergangen sind.“[1] Heute artikuliert sich Antisemitismus semantisch strukturell häufig in weiteren Ausprägungen wie zum Beispiel in Form von Antiamerikanismus, in Verschwörungserzählungen – oder als israelbezogener Antisemitismus. In der Praxis sind die unterschiedlichen Formen von Antisemitismus oft nicht eindeutig differenzierbar, sondern treten miteinander verwoben auf.[2]
Das Plenum der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) hat im Jahr 2016 folgende Arbeitsdefinition von Antisemitismus angenommen:
„Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“[3]
Zur Explikation wurde folgende Erläuterung ergänzt:
„Erscheinungsformen von Antisemitismus können sich auch gegen den Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, richten. Allerdings kann Kritik an Israel, die mit der an anderen Ländern vergleichbar ist, nicht als antisemitisch betrachtet werden. Antisemitismus umfasst oft die Anschuldigung, die Juden betrieben eine gegen die Menschheit gerichtete Verschwörung und seien dafür verantwortlich, dass „die Dinge nicht richtig laufen“. Der Antisemitismus manifestiert sich in Wort, Schrift und Bild sowie in anderen Handlungsformen, er benutzt unheilvolle Stereotype und unterstellt negative Charakterzüge.“[4]
Im Jahr 2017 hat die damalige Bunderegierung einen Kabinettsbeschluss verabschiedet, nach dem sie die oben (fett) zitierte IHRA-Arbeitsdefinition, einschließlich des Zusatzes:
"Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein."[5], als handlungsleitend anerkennt.[6]
Neben der BRD sind 34 andere Staaten Mitglied in der IHRA[7]. Permanente internationale Partner der IHRA sind beispielsweise die United Nations (UN), UNESCO, die Europäische Union (EU), die Conference on Jewish Material Claims Against Germany (Claims Conference), die European Agency for Fundamental Rights (FRA) u.a..[8]Eine Vielzahl von zivilgesellschaftlichen Antisemitismuspräventions- und -dokumentationsprojekten in Deutschland und in anderen Ländern arbeiten auf Grundlage der IHRA-Arbeitsdefinition Antisemitismus, so z.B. die Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus (RIAS) in Deutschland[9], der Community Security Trust (CST) in Großbritannien[10], die Antisemitismus-Meldestelle der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien in Österreich[11] oder die Anti-Defamation-League (ADL) in den USA[12].
Da Antisemitismus ein geschichtlich seit Langem bestehendes Problem ist, das sich immer wieder wandelt und verändert, kommen Aufklärung und Bildung über Antisemitismus eine hohe Bedeutung zu[13]. Auch wenn eine einschränkende Wirkung von Bildungsangeboten auf die Verbreitung und Ausprägung von Antisemitismus immer wieder als begrenzt eingeschätzt werden muss, bleibt jedoch kaum eine Alternative zu einer diesbezüglichen Wirkungserwartung[14], die nicht zuletzt die Hochschule betrifft.
[1] Oliver Decker, Johannes Kiess, Ayline Heller, Julia Schuler & Elmar Brähler (2022): Die Leipziger Autoritarismus Studie 2022: Methode, Ergebnisse und Langzeitverlauf. In: Oliver Decker, Johannes Kiess, Ayline Heller, Elmar Brähler (Hg.) (2022): Autoritäre Dynamiken in unsicheren Zeiten. Neue Herausforderungen – alte Reaktionen? Leipziger Autoritarismus Studie 2022. Psychosozial-Verlag. https://www.boell.de/sites/default/files/2022-11/decker-kiess-heller-braehler-2022-leipziger-autoritarismus-studie-autoritaere-dynamiken-in-unsicheren-zeiten_0.pdf
[2] Amadeu Antonio Stiftung (2022): Antisemitismus – einfach erklärt
https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/wp-content/uploads/2022/10/antisemitismus-einfach-erklaert.pdf; Amadeu Antonio Stiftung (2019): Antisemitismus – Was ist das?
https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/antisemitismus/was-ist-antisemitismus/
[3] International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) (2016): Arbeitsdefinition von Antisemitismus
[4] Ebd.
[5] Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben und Antisemitismus (2017): IHRA-Definition
[6] Ebd.
[7] Vgl.IHRA Member Countries https://holocaustremembrance.com/who-we-are/member-countries
[8] Vgl. IHRA Permanent International Partners https://holocaustremembrance.com/who-we-are/permanent-international-partners
[9] Vgl. RIAS e.V. Arbeitsweisen https://report-antisemitism.de/bundesverband-rias/#operatingPrinciple
[10] Vgl. CST What is Antisemitism? https://cst.org.uk/antisemitism/what-is-antisemitism
[11] Vgl. Antisemitismus-Meldestelle der IKG Wien https://www.antisemitismus-meldestelle.at/berichte
[12] Vgl. ADL About the IHRA Working Definition on Antisemitism https://www.adl.org/resources/backgrounder/about-ihra-working-definition-antisemitism
[13] Vgl. bspw. Arolsen Archives (2022): Die Gen Z und die NS-Geschichte: hohe Sensibilität und unheimliche Faszination. S.8. https://arolsen-archives.org/content/uploads/abstract_arolsen-archives_studie-genz-1.pdf
[14] Vgl. u.a.: Radvan, Heike (2018): Der rekonstruktive Blick im Handlungsfeld offener Jugendarbeit. Potentiale für nonformale Bildung, in: Bohnsack, Ralf/Kubisch, Sonja/Streblow, Claudia (Hg.): Forschung in der Sozialen Arbeit und Dokumentarische Methode, Methodologische Aspekte und gegenstandsbezogene Erkenntnisse, Opladen, Berlin und Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 81–101.
Ableism leitet sich vom Wort „Ability“, Fähigkeit ab. Der Begriff bezeichnet ein Denken und Handeln, das Menschen, menschliche Körper und menschliche Entwicklung nach normativen Maßstäben beurteilt: „der „Wert“ eines Menschen entscheidet sich dabei danach, was sie oder er „kann“ oder „nicht kann“.“1 Menschen werden entsprechend relativ willkürlich gesetzter alters-, geschlechts- und kulturspezifischer Standards eingeschätzt und bewertet. Entsprechen sie diesen Standards nicht – also hat ein Mensch in einem bestimmten Alter bestimmte (vermeintlich) zu erwartende Fähigkeiten noch nicht entwickelt, droht das Stigma Behinderung.2
Der als behindert betrachtete Mensch wird auf seine körperliche und geistige Verfassung reduziert: „Körper, Geist und Herkunft sollen das Wesen eines Menschen ausmachen. Das verbindet Ableism und Behindertenfeindlichkeit mit anderen Diskriminierungsformen“3. So wie andere Formen von Diskriminierung produziert Ableism permanent bestimmte normative Vorstellungen, die zugleich als Bezugspunkt und Begründung dienen, um Menschen auf spezifische (Un)Fähigkeiten und Eigenschaften zu reduzieren. Dabei gerät aus dem Blick, dass Behinderung vor allem dadurch zum Problem wird, dass die Gestaltung der Umwelt an der Norm des (vermeintlich) nicht-behinderten Körpers ausgerichtet ist.4 Immer noch sind viele Räume und öffentliche Infrastrukturen – und das betrifft zum Beispiel auch Hochschulen – nicht konsequent barrierearm gestaltet. Immer noch fehlt es an gleichberechtigten Zugängen zu Bildung, Arbeit und politischer Mitbestimmung. Erst diese – in vielen Fällen vermeidbaren – Hürden im Alltag produzieren die weitreichenden gesellschaftlichen Ausschlüsse, die von Ableism betroffene Menschen behindern.5
1 Rebecca Maskos (o.D.): Ableism. https://www.mut-gegen-rechte-gewalt.de/service/lexikon/a/ableism
2 Ebd.
3 Ebd.
4 Ebd.
5 Sigrid Arnade (2018): Ableismus erkennen und begegnen. http://www.isl-ev.de/attachments/article/1687/Able-Ismus-bf_2018-bf.pdf
Nationalstaaten sind eine „Erfindung“ des 18. bzw. 19. Jahrhunderts. Die Entstehung der ersten Nationen ging einher mit einer Entmachtung des Adels, der Entstehung eines modernen Staatswesens und dem Beginn des Parlamentarismus. Nationalstaatliche Strukturen waren zudem die unabdingbare Voraussetzung für die Durchsetzung der kapitalistischen Wirtschaftsform. Diese bedurfte rechtlich abgesicherter und territorial eingehegter Wirtschafts- und öffentlicher Infrastrukturen, in denen das „heimische“ Kapital gute Bedingungen zu seiner Entfaltung vorfand.1 Dem Verhältnis der Nationalstaaten untereinander war so von Beginn an ein kompetitives Verhältnis eingeschrieben. Der Nationalismus ist damit eng verbunden. Er deutet die nationale Grenzziehung zu einer natürlichen um und setzt die Differenz zwischen (Angehörigen unterschiedlicher) Nationen als etwas Absolutes, Ontologisches.2 Die eigene nationale „Wir“-Gruppe wird überhöht, all jene, die als nicht-zugehörig konstruiert werden, jedoch abgewertet. Dies betrifft andere Nationen und deren Angehörige, aber das betrifft auch, je nach Doktrin, mehr oder weniger große Teile der Bevölkerung innerhalb der Nation, die zum Beispiel aus rassistischen Gründen als nicht-zugehörig betrachtet werden. Nationalismus geht also häufig einher mit Rassismus sowie mit Ethnozentrismus.3
Im Nationalismus wird eine Zusammengehörigkeit und Gleichheit zwischen den Angehörigen der „Wir“-Gruppe imaginiert, die so nicht besteht, denn die nationale Klammer sorgt keineswegs dafür, dass real bestehende Ungleichheiten im Kapitalismus, wie sie zum Beispiel durch Rassismus, Sexismus oder Klassismus vermittelt werden (siehe oben), abgeschafft würden. Vielmehr verdeckt Nationalismus reale Ungleichheiten, indem er eine imaginierte Gleichheit hypostasiert. Im globalen Maßstab entscheidet die Staatsangehörigkeit darüber, wie Menschen sich bewegen, wie und wo sie leben und arbeiten können. Und damit zugleich über die jeweiligen Möglichkeiten, an dem global extrem ungleich verteilten Reichtum teilzuhaben.4
1 Ulrike Herrmann (2015): Vom Anfang und Ende des Kapitalismus – Essay. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/211039/vom-anfang-und-ende-des-kapitalismus-essay/
2 Klaus Schubert & Martina Klein (2020): Das Politiklexikon. Dietz. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/17889/nationalismus/
3 Wolfgang Kruse (2012): Nation und Nationalismus. https://www.bpb.de/themen/kolonialismus-imperialismus/kaiserreich/138915/nation-und-nationalismus/
4 Theresa Neef (2022): Wie ungleich ist die Welt. Ergebnisse des World Inequality Report 2022. https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/apuz/ungleichheit-2022/512778/wie-ungleich-ist-die-welt/
Ethnozentrismus bezeichnet eine Einstellung oder Weltanschauung, in der die eigene (soziale, ethnische, etc.) Gruppe zum normativen Maßstab der Bewertung aller anderen wird. Die Eigengruppe wird dabei als normal, gut und überlegen betrachtet, alle anderen werden zugunsten der Eigengruppe abgewertet und je nach spezifischer Ausprägung als wild und unzivilisiert, unmoralisch und irrational, schwach und unfähig, etc. imaginiert. Ethnozentrismus ist also eine Art Meta-Ideologem, das sich in vielen der hier beschriebenen Facetten in unterschiedlicher Ausprägung wiederfindet.1
1 Klaus Schubert & Martina Klein (2020): Das Politiklexikon. Dietz. Lizenzausgabe Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. https://www.bpb.de/kurz-knapp/lexika/politiklexikon/17422/ethnozentrismus/; Spektrum (2000): Lexikon der Psychologie. Spektrum Akademischer Verlag. https://www.spektrum.de/lexikon/psychologie/ethnozentrismus/4467
Der Sozialdarwinismus entstand im 19. Jahrhundert als eine Art Anwendung des Evolutionismus auf den sich entwickelnden ökonomischen Liberalismus. Der Philosoph und Soziologe Herbert Spencer hatte bereits vor Charles Darwin die Begriffe "struggle for existence“ und "survival of the fittest" geprägt. Die universelle Konkurrenz innerhalb des modernen Marktgeschehens gleiche dem Spiel blinder Naturkräfte – so wie in diesem bestmögliche Anpassung Erfolg garantiere, so sei auch jenes geeignet, die bestmöglichen Eigenschaften des Menschen und damit allgemeinen Fortschritt zu fördern. Übersehen wurde bereits in den historischen Anfängen des Sozialdarwinismus, dass es keineswegs so war, dass allen Menschen die gleichen Voraussetzungen zur Verfügung standen, sich im „Kampf ums Dasein“ zu bewähren. Abgesehen wurde zudem davon, dass Aufklärung im emphatischen Sinne ja gerade darin bestehen sollte, sich von blindem Naturzwang zu emanzipieren, nicht darin, diesen bewusstlos auf kultureller Ebene zu wiederholen.1
Spätestens in den sich zeitgleich entwickelnden eugenischen und rassenhygienischen/rassistischen Theorien, zeigte sich das zutiefst reaktionäre und antihumanistische Potential des Sozialdarwinismus. Eugeniker sahen die „Rassen“ durch den humanistischen Fortschritt in der Moderne von Degeneration bedroht, da die natürliche Auslese so nicht mehr wirken könne, und schlugen vor, diese Auslese durch Selektion der „schwachen“ Teile der Gesellschaft (und deren Zwangssterilisation, später, im Nationalsozialismus auch deren Ermordung) zu ersetzen.2
„Der Begriff "Sozialdarwinismus“ wird heute zur Bezeichnung von Positionen verwendet, die gesellschaftliche Randgruppen – etwa Wohnungslose, Sozialhilfeempfänger oder Menschen mit Behinderungen – als "minderwertig“, als Abgehängte, Überflüssige, "Sozialschmarotzer“ oder als Menschen, die der Gesellschaft Kosten verursachen, ohne ihr zu nutzen, abqualifizieren. Neben "Sozialdarwinismus“ werden für solche Positionen auch Begriffe wie Sozialchauvinismus, Sozialrassismus oder Klassismus verwendet.“3 Hierunter werden heute beispielsweise folgende Aussagen gefasst: „Wie in der Natur sollte sich in der Gesellschaft immer der Stärkere durchsetzen“, „Es gibt wertvolles und unwertes Leben“, „Eigentlich sind die Deutschen anderen Völkern von Natur aus überlegen“.
1 Manuela Lenzen (2015): Was ist Sozialdarwinismus? https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/214188/was-ist-sozialdarwinismus/
2 Ebd.
3 Ebd.
Geschichtsschreibung ist immer Rekonstruktion von Vergangenem aus Perspektive der Gegenwart. Geschichtsschreibung ist dabei meist auch: Konstruktion einer spezifischen Gegenwart auf Grundlage der Vergangenheitsrekonstruktion. Sie ist dabei nicht frei von Interessen und Vorlieben, von Vorannahmen und Prägungen. Und doch unterscheidet sich Geschichtswissenschaft ganz wesentlich von revisionistischer Geschichtsschreibung. Sie muss sich an Kriterien guter wissenschaftlicher Praxis messen lassen, muss belegen und begründen, wo letztere beliebig Fakten verzerrt, historische Ereignisse leugnet oder verharmlost.
Die beiden deutschen Staaten, die 1949 gegründet wurden, entwickelten ihren je eigenen Umgang mit ihrer gemeinsamen Vergangenheit. Beide waren postnationalsozialistische Gesellschaften und damit in der Verantwortung, einen Umgang mit den Folgen des Zweiten Weltkrieges und den Verbrechen, insbesondere der industriell organisierten Tötung von Millionen Menschen im Holocaust zu finden. Die DDR verstand sich als antifaschistischer Staat, der mit dem Aufbau des Sozialismus die einzig richtige und notwendige Antwort auf den Nationalsozialismus und dessen Ursachen gegeben habe.[1] Letztere wurden mit der Definition Georgi Dimitroffs in den „reaktionärsten, chauvinistischsten, am meisten imperialistischen Elemente[n] des Finanzkapitals“ gesehen. Auch wenn sich die DDR sehr unterschiedlich zu Westdeutschland positionierte und z.B. die Wirkung der Entnazifizierung in beiden deutschen Staaten differenziert betrachtet werden sollte, muss konstatiert werden, dass eine Entschuldung der Mehrheitsbevölkerung hinsichtlich deren Verantwortlichkeit für den Nationalsozialismus in der DDR schon ab 1949 im Vordergrund stand. Eine kritische, vor allem lokalhistorische Aufarbeitung von Täterschaft und ein damit einhergehender öffentlicher Diskurs bleibt bis zum Ende der DDR aus. Die öffentliche Erinnerungskultur war vielmehr ideologisch stark überformt und von einer heroisierenden Darstellung des kommunistischen Widerstandskampfes geprägt. Die verschiedenen Opfergruppen ebenso wie Widersprüche, Fehler in der Arbeit der KPD waren dethematisiert. Zudem zeigt sich ein instrumenteller Umgang mit NS-Tätern, je nachdem, wie es parteipolitisch und propagandistisch im Kalten Krieg in der Auseinandersetzung mit Westdeutschland medial einsetzbar war.[2]
In der BRD wurden bereits wenige Jahre nach deren Gründung Forderungen nach einem erinnerungspolitischen Schlussstrich und einem Ende der Entnazifizierungspolitik hegemonial. Deutsche Schuld am Zweiten Weltkrieg und an der Vernichtung von Millionen von Menschen durch die Vernichtungspolitik der Nationalsozialisten sollten nach Meinung des überwiegenden Teils der deutschen Bevölkerung beschwiegen bleiben.[3] Die Erinnerung an die Zeit des Nationalsozialismus beschränkte sich auf Themen, die geeignet waren, das deutsche „Volk“ als Opfer Hitlers und der Alliierten darzustellen. In vielen gesellschaftlichen Bereichen – u.a. im Bildungssektor und der Politik – blieben in Westdeutschland Personen in relevanten Positionen, die mitverantwortlich waren für die Umsetzung der nationalsozialistischen Ideologie und deren Verbrechen. Auch wenn in der BRD mit der öffentlichen Debatte um den Eichmann-Prozess (1961 in Israel) und die Frankfurter Auschwitzprozesse sowie dem Versuch einer innerfamiliären Thematisierung der individuellen Verantwortung für die Verbrechen des Holocaust durch die 68er Studierendenbewegung, eine breitere gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung beginnt, muss deren Wirkung aus heutiger Sicht als begrenzt eingeschätzt werden. In den 1980er Jahren beginnen mit der „Grabe-Wo-Du stehst“- Bewegung lokalhistorische Recherchen und eine zum Teil regional-öffentliche Thematisierung der Verbrechen im NS, zunächst aus Perspektive verschiedener Opfergruppen, später partiell auch zu Täterschaft.
Betrachtet man den Umgang beider Staaten mit den NS-Verbrechen so zeigt sich, dass ein Beschweigen der Verbrechen im NS im öffentlichen Raum überwiegend im Vordergrund stand. Eine kritisch-ernsthafte gesamtgesellschaftliche Auseinandersetzung mit der Perspektive auf Verantwortungsübernahme gerichtet – wie sie zum Beispiel der Staatsanwalt Fritz Bauer immer wieder eingefordert und mit der gerichtlichen Aufarbeitung im Zuge der Auschwitzprozesse für Westdeutschland partiell erkämpft hatte, blieb in beiden Staaten aus bzw. in Ansätzen stecken. Forderungen nach einem „Schlussstrich“ in der öffentlichen Thematisierung des Holocaust erhalten in Studien der Einstellungsforschung seit vielen Jahren signifikant hohe Zustimmungswerte unter Befragten.[4]
Während die gesellschaftliche Aufarbeitung des Nationalsozialismus im Verlauf der 1980er und 1990er Jahre vielfach durch großes Engagement zivilgesellschaftlicher Gedenk- und Erinnerungsprojekte vorangetrieben wurde[5], und dazu beitrug, den gesellschaftlichen sowie insbesondere den staatlichen Umgang mit dem NS-Erbe zu verändern[6], ist die deutsche Kolonialgeschichte bis heute nur wenig thematisiert worden. In der öffentlichen Debatte hat das Thema lange keine Rolle gespielt. Dennoch prägt das koloniale Erbe die deutsche Gesellschaft bis heute und verlangt nach einer tiefergehenden Auseinandersetzung. So wurde beispielsweise der Völkermord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika (heutiges Namibia) von 1904 bis 1908, bei dem Zehntausende indigene Menschen getötet wurden, lange Zeit in Deutschland nicht als Völkermord anerkannt, obwohl dieser als erster Genozid des 20. Jahrhunderts gilt. Erst nach langanhaltendem lokalem und internationalem Druck gab es im Jahr 2021 eine offizielle deutsche Regierungserklärung, in der anerkannt wurde, dass es sich um einen Völkermord handelte. Bis heute kritisieren Menschenrechtsporganisationen fehlende Konsequenzen aus der Anerkennung. Darüber hinaus werden koloniale Akteure in Deutschland auch heute noch durch Straßennamen, Denkmäler, Literatur oder populäre Darstellungen in Museen geehrt. Hierdurch wird das tatsächliche Ausmaß der kolonialen Gewalt verzerrt, und eine brutale Epoche der Unterdrückung verherrlicht.
Geschichtsrevisionismus ist ein wesentlicher Bestandteil extrem rechter Ideologie. Mithilfe manipulierter Fakten, fehlinterpretierter Dokumente, nur selektiver Berücksichtigung geschichtswissenschaftlicher Erkenntnisse oder schlicht Erfindungen und Lügen wird die Geschichtsschreibung zum Beispiel über den Nationalsozialismus so umgedeutet, dass die Verbrechen des Nationalsozialismus relativiert oder geleugnet werden können. Rechte Geschichtsrevisionisten leugnen oder relativieren zum Beispiel den Holocaust oder die Verantwortung Deutschlands für den Zweiten Weltkrieg.[7] Unter (Rechts)Konservativen war lange ein Geschichtsbild populär, das den antirepublikanischen Schulterschluss zwischen extrem rechten Kräften sowie beträchtlichen Teilen des Konservatismus und des Adels während der Zeit der Weimarer Republik leugnete, der den Aufstieg der Nationalsozialisten mit ermöglichte.
Geschichtsrevisionistische Tendenzen gibt es aber nicht nur im rechten Spektrum. So schreibt beispielsweise die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), Staatsministerin Claudia Roth in ihrem kontrovers diskutierten Entwurf für ein „Rahmenkonzept Erinnerungskultur“: „Geschichtsrevisionistische Relativierung, Leugnung der Shoah oder Aberkennung ihrer Einzigartigkeit […] sind auch weitverbreitet in islamistischen Weltanschauungen. Ebenso kommen sie in Teilen einer anti-imperialistischen und post-kolonialen Linken vor, für die die Shoah ein rassistisch begründetes Unrecht unter vielen und der nationalsozialistische Antisemitismus ein soziales Dominanzverhältnis ist.“[8] Der Entwurf des BKM selbst wiederum wurde von Vertretern der NS- und DDR-Gedenkstätten „als geschichts-revisionistisch im Sinne der Verharmlosung der NS-Verbrechen“ kritisiert. Sie begrüßten zwar ausdrücklich die Aufnahme „der Auseinandersetzung mit den Verbrechen des Kolonialismus“ als dritte Säule eines erneuerten Konzepts, kritisierten aber die weitgehend unspezifische Aneinanderreihung von Themen, ohne die jeweiligen Verbindungslinien und Unterschiede konzeptionell zu fassen, als drohenden „geschichtspolitischen Paradigmenwechsel“, der dazu führen könne, dass der „zentrale Stellenwert der Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen für das staatliche Selbstverständnis der Bundesrepublik“ verloren gehe.[9]
Der Antisemitismusforscher Steffen Klävers verweist auf ähnliche Tendenzen in manchen komparativ-postkolonialen Ansätzen der Holocaustforschung: Im Versuch, den Nationalsozialismus mithilfe des analytischen Begriffsapparats post- oder dekolonialer Ansätze zu verstehen, drohen die Spezifika historischer Zusammenhänge verloren zu gehen. „Das geschieht meist dann, wenn Antisemitismus als Spielart, Unterform oder Variante des Rassismus begriffen wird, obwohl es signifikante Unterschiede in den Dynamiken und den Wirkungsweisen dieser beiden Ideologien gibt.“[10]
Eine repräsentative Studie aus dem Jahr 2022 zeigt, dass die Generation der 16-25jährigen in Deutschland ein steigendes Interesse an der Zeit des Nationalsozialismus hat. Die NS-Zeit sensibilisiere die „Gen Z für gesellschaftliche Probleme – mit besonderem Augenmerk auf Rassismus“[11]. Die Studie zeigt aber auch, dass es teilweise an diesbezüglichem Wissen mangelt. So werde beispielsweise „Antisemitismus als zentrale Ideologie des Nationalsozialismus […] überwiegend nicht erkannt/kaum spezifisch thematisiert“[12]. Die Ergebnisse unterstreichen also sowohl die Bedeutung, die dem Wissen um die NS-Geschichte zukommt als auch die Herausforderung, dieses Wissen adäquat zu vermitteln. Schule und Hochschule kommt dabei eine besondere Verantwortung zu.
[1] vgl. hier und im Folgenden Heitzer, Enrico/Jander, Martin/Kahane, Anetta/Poutrus, Patrice (2018): Nach Auschwitz: Schwieriges Erbe DDR. Plädoyer für einen Paradigmenwechsel in der DDR-Zeitgeschichtsforschung, Frankfurt M.
[2] Leide, Henry (2005): NS-Verbrecher und Staatssicherheit. Göttingen.
[3] Norbert Frei (1996): Vergangenheitspolitik. Die Anfänge der Bundesrepublik und die NS-Vergangenheit. Beck; Bildungsstätte Anne Frank (Hg.) (2020): Wie die Rechten die Geschichte umdeuten. Geschichtsrevisionismus und Antisemitismus https://www.bs-anne-frank.de/fileadmin/content/Publikationen/Themenhefte/Themenheft_Geschichtsrevisionismus_Web.pdf
[4] Vgl. Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.) (2002–2012): Deutsche Zustände, Folge 1–10, Frankfurt/M. sowie die Leipziger Autoritarismus-Studien, die seit 2002 von einer Arbeitsgruppe um Elmar Brähler und Oliver Decker alle zwei Jahre herausgegeben werden, www.theol.uni-leipzig.de/kompetenzzentrum-fuer-rechtsextremismus-und-demokratieforschung/leipziger-autoritarismus-studie
[5] Vgl. Jureit, U. & Schneider, C. (2010) Gefühlte Opfer, Klett-Cotta Stuttgart.
[6] Diese Veränderungen sind komplex und vielfach ambivalent. Sie führten beispielsweise dazu, dass die eigene Verantwortung für Nationalsozialismus und Shoah nicht mehr geleugnet sondern zum identitätsstiftenden Bezugspunkt des Selbstbilds der Berliner Republik wurde, der die eigene Läuterung, das eigene Wiedergutwerden erwies und damit eine neue Form des Nationalismus ermöglichte. Vielfach wird zwar an das schwierige Erbe der deutschen Nation erinnert, diese Erinnerung wird aber zunehmend zum entleerten Ritual, pflichtbewusst und routiniert erledigt. Gedenkstätten verzeichnen Besucher_innenrekorde und dokumentieren gleichzeitig einen Anstieg antisemitischer Vorfälle innerhalb der Gedenkstätten. (Vgl. Jureit, U. & Schneider, C. (2010) Gefühlte Opfer, Klett-Cotta Stuttgart; Vgl. auch: MDR (2024) NS-Gedenkstätten Besucherzahlen-Anstieg https://www.mdr.de/nachrichten/deutschland/gesellschaft/ns-gedenkstaetten-besucherzahlen-anstieg-100.html , NDR (2024) NS-Gedenkstätten verzeichnen 2023 gestiegene Besucherzahlen https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/NS-Gedenkstaetten-verzeichnen-2023-gestiegene-Besucherzahlen,gedenkstaetten116.html , Land NRW (2019) NS-Gedenkstätten NRW verzeichnen erneut Besucherrekord www.land.nrw/pressemitteilung/ns-gedenkstaetten-nordrhein-westfalen-verzeichnen-erneut-besucherrekord)
[7] Bundeszentrale für politische Bildung (o.D.): Glossar: Revisionismus
https://www.bpb.de/themen/rechtsextremismus/dossier-rechtsextremismus/500811/revisionismus/
[8] Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) (01.02.2024): Rahmenkonzept Erinnerungspolitik http://h-und-g.info/fileadmin/projekte/HuG/Kontroversen/20240201_Rahmenkonzept_Erinnerung.pdf
[9] Gedenkstätten zur Erinnerung an das NS-Unrecht und die SED-Diktatur (03.04.2024): Stellungnahme zum Entwurf des Rahmenkonzepts Erinnerungskultur http://h-und-g.info/fileadmin/projekte/HuG/Kontroversen/240403_Stellungnahme_Gedenksta_tten_zu_Rahmenkonzept.pdf; vgl. auch Verband der Gedenkstätten in Deutschland e.V. (VGDF) et al. (30.05.2024): Stellungnahme. Gedenkstättenarbeit würdigen, sichern und weiterentwickeln. Von der „Fortschreibung der Gedenkstättenkonzeption des Bundes“ zum „Rahmenkonzept Erinnerungskultur“ – und zurück. http://erinnern-gedenken-rlp.de/wp-content/uploads/2024/05/2024-05_30-Stellungnahme-Gedenkstaettenarbeit-wuerdigen-sichern-und-weiterentwickeln.pdf
[10] Klävers, S. (2021): Decolonizing Auschwitz? https://taz.de/!vn5763362/ ; vgl. auch Klävers, S.(2019): Decolonizing Auschwitz? Komparativ-postkoloniale Ansätze in der Holocaustforschung, De Gruyter Oldenbourg.
[11] Arolsen Archives (2022): Die Gen Z und die NS-Geschichte: hohe Sensibilität und unheimliche Faszination. S.4 https://arolsen-archives.org/content/uploads/abstract_arolsen-archives_studie-genz-1.pdf
[12] Ebd. S. 8