Pressemitteilung: Einsame Spitze

Die Studienbedingungen in den neuen Bundesländern sind fast überall besser als im Westen. Warum nur machen so viele Studenten einen Bogen um die Unis im Osten? Ein Artikel aus DIE ZEIT, 04.04.2007 Nr. 15 von Jan-Martin Wiarda

Über diese Kommentare kann sie sich noch heute aufregen. »Was, du gehst in den Osten?«, haben einige ihrer ehemaligen Klassenkameraden zu Hause in Düsseldorf gesagt. »Wieso das denn?« Doch Sarah Abelen, damals 21, hat nur den Kopf geschüttelt und gefragt, wann ihr Gegenüber zuletzt in den neuen Bundesländern gewesen war. Das Erschreckende: Einige waren noch nie da. Abelen dagegen hat ihren Plan in die Tat umgesetzt und studiert seit zwei Jahren an der Brandenburgischen Technischen Universität (BTU) in Cottbus, ein paar Kilometer vor der polnischen Grenze. »Das war eine der besten Entscheidungen, die ich bislang getroffen habe«, sagt sie mit einem Lachen.

Es war aber auch eine einsame Entscheidung. Denn noch immer gehört es zu den absoluten Ausnahmen in der deutschen Hochschullandschaft, dass sich junge Menschen zum Studium gen Osten aufmachen: Gerade einmal vier Prozent der Westabiturienten studieren in den neuen Bundesländern. Neue Forschungsergebnisse des von der Bertelsmann Stiftung und der Hochschulrektorenkonferenz finanzierten Centrums für Hochschulentwicklung (CHE) geben den paar Mutigen jetzt recht. Die Studienbedingungen, so das verblüffende Ergebnis, sind im Osten deutlich besser als in den alten Bundesländern. »Die neuen Länder liegen in dem Vergleich fast durchweg an der Spitze«, sagt Cort-Denis Hachmeister, einer der Autoren der Studie.

Das CHE hat die Urteile von 75000 Studenten ausgewertet, die in die Hochschulrankings des Centrums eingeflossen sind. Bewertet wurden unter anderem der Zustand der Räume, der vorhandene Platz pro Student, die Qualität der Bibliothek und die technische Ausstattung. Sachsen-Anhalt, das ansonsten in Bildungsrankings eher unter »ferner liefen« auftaucht, hat sich dabei Platz eins erobert mit deutlichem Abstand vor Thüringen, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen. Schleswig-Holstein als erstes Westland folgt auf Rang fünf, vor Bayern, Baden-Württemberg und Brandenburg.

Deutschlands Wissenschaftsminister, auch die im Westen, werden die Ergebnisse der CHE-Auswertung mit Genugtuung vernehmen. Seit Monaten brüten sie über möglichen Strategien, wie sie den Abiturienten aus Köln, Augsburg oder Wiesbaden die Hochschulen zwischen Rostock und Dresden schmackhafter machen können. Denn bislang laufen die Studentenströme genau in die andere Richtung: Mehr als jeder vierte Ostabiturient geht zum Studium in den Westen – und kehrt meist auch für den ersten Job nicht mehr zurück. Saarlands Wissenschaftsminister Jürgen Schreier (CDU) spricht angesichts solcher Zahlen von einer regelrechten »Flucht gen Westen«.

Studiengebühren gibt es keine, die Lebenshaltungskosten sind niedrig

Die ungleiche Verteilung der Studenten war schon bislang gefährlich, gingen den neuen Ländern doch ihre besten Talente verloren. Jetzt aber, wenige Jahre vor dem erwarteten Studentenberg in den alten Bundesländern mit möglicherweise 700000 zusätzlichen Studenten, ist der Leerstand Ost bei gleichzeitigem Notstand West geradezu absurd. Darum haben die Wissenschaftsminister aus Bund und Ländern im lange umkämpften Hochschulpakt auch vereinbart, 15 Prozent der Mittel nicht für neue Studienplätze einzusetzen, sondern für den Erhalt der vorhandenen Ressourcen im Osten. Die hätten die neuen Länder sonst mangels eigener Abiturienten abgebaut – was gesamtdeutsch gesehen ökonomischer Unfug gewesen wäre.

Die CHE-Studie gibt den ostdeutschen Universitäten nun ein paar neue Argumente an die Hand, die sie im Werben um die Studenten aus den alten Bundesländern einsetzen können, und es gibt noch weitere Standortvorteile Ost: Keines der neuen Bundesländer erhebt bislang Studiengebühren, und die Lebenshaltungskosten sind um fast ein Drittel niedriger als im Westen. Die Aussichten, in den kommenden Jahren mehr Studienanfänger nach Osten zu locken, sind also so gut wie nie zuvor.

Dennoch haben sich zuletzt einige Misstöne in die Debatte gemischt. Die neuen Bundesländer wollten nicht jene Studenten aufnehmen, die im Westen keinen Studienplatz bekommen hätten, sagte etwa Sachsens Ministerpräsident Georg Milbradt (CDU), denn dann blieben die Besten im Westen, und der Durchschnitt ginge in den Osten. Saarlands Wissenschaftsminister hält dagegen. »Solche Äußerungen sind kontraproduktiv«, sagt Schreier. »Dahinter steckt eine Sichtweise, die mir nicht gefällt: dass Studenten nämlich eine Belastung sind und kein Gewinn.« Im Übrigen hätten die neuen Bundesländer beim Aufbau ihrer Hochschulen von der Solidarität des Westens profitiert, jetzt gehöre es zu ihrer gesamtstaatlichen Verantwortung, dass sie ihre Hochschulen offen hielten – für alle und ohne Einschränkung.

Denn dass die Gefahr, vor allem Abiturienten mit schlechterem Notenschnitt könnten künftig in den Osten abwandern, real ist, bestätigt auch der Bildungsökonom Dieter Dohmen vom Forschungsinstitut für Bildungs- und Sozialökonomie (FiBS) in Berlin. »Allerdings sollten die Wissenschaftsminister dem Reiz widerstehen, die Studentenströme durch neuen Dirigismus in die vermeintlich richtige Richtung lenken zu wollen.« Der einzig sinnvolle Weg, so Dohmen, sei ein entschiedenes Marketing gerade der kleineren Standorte im Osten, um die eigenen Stärken und die gute Studienqualität herauszustellen. Das sieht auch Dagmar Demming, Vizepräsidentin der Universität Erfurt, so: »Wir müssen noch viel präsenter werden in den öffentlichen Debatten. Wenn wir uns von der Masse der Studiengänge unterscheiden und die interessanteren Angebote machen, dann erledigt sich Milbradts Sorge von selbst.« Denn so werde es auch gelingen, gerade die besonders Engagierten unter den Studenten anzulocken.

Studenten wie Sarah Abelen. »Alles ist funkelnagelneu hier«, schwärmt die Düsseldorferin, wenn sie vom Campus der Cottbuser BTU erzählt. Besonders die hochmoderne Bibliothek hat es ihr angetan. Den Glasbau entworfen haben die Basler Stararchitekten Herzog und de Meuron, von denen auch die Entwürfe für die Elbphilharmonie in Hamburg und die Allianz Arena in München stammen. Die Plattenbauten am Stadtrand hingegen sind für Abelen weit weg, genauso wie die Rechtsradikalen, deren Gegenwart ausländische Studenten immer noch als Bedrohung erleben. Die Universität tue alles in ihrer Macht Stehende, um die Studenten auf die Gefahr hinzuweisen, betont Abelen und lobt die neueste Infobroschüre Safety on Campus and in Cottbus. Viel lieber aber redet sie von den einzigartigen Studienbedingungen. »Vorlesungen mit 300 Leuten, das kenne ich gar nicht – und davon, dass jemand in einen Kurs nicht hineingekommen ist, habe ich noch nie gehört.«

Doch auch Abelens Entscheidung für Cottbus hatte nicht allein mit den niedrigeren Kosten oder dem Charme eines Uni-Städtchens zu tun. »Die hatten den richtigen Studiengang für mich«, sagt sie. Die Düsseldorferin macht einen Bachelor in Environmental and Resource Management, in einem internationalen Programm mit Englisch als Unterrichtssprache. Die BTU hat sich in den vergangenen Jahren im Umweltbereich einen Namen gemacht, der über die deutschen Grenzen hinausreicht. Abelens Studienkollegen kommen aus ganz Deutschland genauso wie aus Taiwan und Afrika.

Die Lehre ist gut. Aber bei der Forschung gibt es Nachholbedarf

»Von derart innovativen Studiengängen brauchen wir noch viel mehr«, sagt Sachsen-Anhalts Wissenschaftsminister Jan-Hendrik Olbertz (parteilos). Die Betreuungsrelationen seien vielerorts bereits ausgezeichnet, es fehle aber noch an konkreten Angeboten für Studienanfänger, zum Beispiel Orientierungssemestern. Zudem, so Olbertz, hätten die Osthochschulen bei allen strukturellen und inhaltlichen Vorteilen mit einem einschneidenden Standortnachteil zu kämpfen: Die schwächere Wirtschaftsstruktur wirke dem Aufbau von Exzellenz entgegen. »Im Osten, aber auch in den nördlichen alten Bundesländern gibt es Defizite in den Forschungsstrukturen, und dementsprechend fehlt auch eine ausreichende Zahl von Kooperationen mit innovativen Unternehmen.« Olbertz fordert daher mehr Engagement von Bund und Ländern. »Die finanzschwachen Länder können solche Strukturen nicht alleine schaffen.«

In Erfurt immerhin steigt die Zahl der Studienanfänger aus dem Westen seit Jahren. Den gleichen Trend vermeldet Marita Müller von der BTU. »Natürlich haben wir hier auch kein Interesse an Zwangsverpflichteten«, sagt sie. Ihr Eindruck sei indes ein ganz anderer: Jene Abiturienten aus den alten Ländern, die den weiten Weg auf sich nähmen, seien außerordentlich gut informiert und hoch motiviert. »Viele mögen es noch nicht begriffen haben, aber es ist so«, sagt Müller: »Wer heute auf Zack ist, geht in den Osten.«

©  DIE ZEIT, 04.04.2007 Nr. 15

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