Future Narratives of Small Towns
Die akademische Forschung über Kleinstädte konzentriert sich tendenziell auf negative oder defizitäre Narrative (Hannemann, 2004, 2018), insbesondere wenn größere Metropolen als städtische Blaupausen herangezogen werden (Baumgart et al., 2004). Mainet (2011) stellt fest, dass Kleinstädte ständig zwischen der Mobilisierung städtischer und ländlicher Bezüge schwanken, um über ihr Territorium zu sprechen, wobei sie sich fast systematisch mit anderen territorialen Ebenen vergleichen, ohne jemals eine eigene territoriale Erzählung zu entwickeln. In Frankreich und Deutschland haben Forscher die Dominanz eines metropolitanen Narrativs hervorgehoben, das die Vorzüge anderer städtischer Gebiete ausblendet (Porsche, Milbert, 2018; Bouba-Olga, Grossetti, 2019).
Die Forderungen nach der Konstruktion anderer, positiverer räumlicher Narrative von Kleinstädten (Bal et al., 2017; Bouba-Olga, 2019) haben heute eine besondere Resonanz: Einerseits sind im Kontext der Covid-19-Pandemie Kleinstädte, insbesondere im ländlichen Raum, beliebter geworden als dicht besiedelte Stadtkerne. Die sukzessive Ausgangsperren der Covid-19-Krise in den Jahren 2020-21 und das Aufkommen digitaler, ferngesteuerter Arbeitsmöglichkeiten führten unter anderem zu einer symbolischen Abwertung der größeren Städte. Andererseits haben die politischen Folgen der Peripherisierung der Kleinstädte, wie extremistische Wahlmuster in Deutschland und Frankreich und die Krise der Gelbwesten in Frankreich, zu einer Neudefinition ihres Stellenwerts in der öffentlichen Politik beigetragen. So wurden beispielsweise Forderungen nach einer kooperativeren Kleinstadtentwicklung laut (Dehne, 2018). In Frankreich wurde ein nationales Programm zur Revitalisierung von Kleinstädten eingeführt und in Deutschland wurde die Kleinstadtforschung von verschiedenen Bundesministerien sowie Stadtforschungs- und -planungsinstituten gefördert (Steinführer et al., 2021). Insgesamt scheint sich in Frankreich und Deutschland in den Medien, in der Politik und im akademischen Bereich ein neues "offizielles" Narrativ über Kleinstädte zu entwickeln.
Das wissenschaftliche Ziel dieses PROCOPE-Projekts, an dem Nachwuchswissenschaftler und etablierte Forscher der BTU Cottbus-Senftenberg und der Université Clermont Auvergne beteiligt sind, besteht darin, die sich abzeichnenden Zukunftsnarrative über Kleinstädte in Frankreich und Deutschland zu vergleichen und sie im jeweiligen Kontext historisch zu kontextualisieren, um ähnliche und unterschiedliche Entwicklungspfade zu unterscheiden. Darüber hinaus wollen wir die Entstehung lokaler territorialer Narrative untersuchen und ihren Einfluss (bzw. ihren mangelnden Einfluss) auf die städtische Entwicklung sowie auf die lokale Entwicklungspraxis und die in diesem Zusammenhang entstehenden Konflikte hinterfragen. Mit anderen Worten, wir wollen neue Einblicke in die diskursiven städtischen Praktiken mit dem Schwerpunkt auf Kleinstädten im neuen/postpandemischen Kontext gewinnen. Diese Fragen werden anhand von Fallstudien in ausgewählten Regionen beider Länder, insbesondere in der Auvergne (Frankreich) und der Lausitz (Deutschland) - dem Standort der antragstellenden Universitätsinstitute - mit unterschiedlichen thematischen Ansätzen untersucht.