Gebaute Diskrepanz. Das Gebäude der Königlichen Hofbibliothek in Berlin 1774 bis 1970

Das Gebäude der Königlichen Hofbibliothek, auch Alte Bibliothek oder „Kommode“ genannt, entstand von 1774 bis 1783 an der Westseite des Bebelplatzes und gehört als Teil des Forum Fridericianum zu den Prachtbauten des preußischen Berlins. In dem oft als anachronistisch bezeichneten Gebäude drückt sich der Widerspruch zwischen der barocken, den Wiener Michaelertrakt zitierenden Fassade und dem klassizistisch geprägten städtebaulichen Umfeld aus. Darüber hinaus ist das Gebäude von der Diskrepanz zwischen der Fassade und dem Gebäudeinneren geprägt. Diese zweifache Diskrepanz prägte alle Umformungen des Gebäudes in den folgenden zwei Jahrhunderten und ist bis heute konstitutiv für den Bau. Gleichzeitig macht das Verhältnis zwischen Bewahren und Erneuern es uns möglich ist, den heutigen Bau noch immer als Bibliothek Friedrichs II. zu bezeichnen.

Die Gebäudemonographie untersucht den Bau von seiner Entstehung bis zum Ende des 20. Jahrhundert hinsichtlich der Planungsprozesse, baulichen Umformungen, Rezeption und gesellschaftlich-kulturpolitischen Leitbilder. Der bisher nur kursorisch beschriebene originale Zustand des Bibliothekneubaus von 1784 einschließlich seiner Erstkonzeption lässt sich im Kontext des Bibliotheksbaus Ende des 18. Jahrhunderts als höchst innovativer Bau beschreiben. Seine Platzfassade zitiert bewusst als historische Reminiszenz die hochbarocke und damit retrospektive Architektursprache des 1720 in Wien geplanten Michaelertraktes, um die Vollendung des monumentalen Residenzplatzes zu markieren, den Friedrich II. seit seiner Thronbesteigung sukzessive realisierte.

Während der Nutzungsphase als Bibliotheksgebäude zwischen 1784 und 1909 lastete aufgrund intensivierter Nutzung ein permanenter Veränderungsdruck auf dem Bau, so dass vielfache Um- und Ausbauten nötig wurden. In diesem Zuge wirkte die Barockfassade strukturierend auf die Umbauten. Die bestehende Diskrepanz zwischen Fassade und Gebäudeinnerem wurde in einem Harmonisierungsprozess sukzessive aufgehoben. Gleichzeitig waren die baulichen und bibliothekstechnischen Veränderungen technisch innovativ oder entsprachen zumindest dem allgemeinen Standard. Durch die Rekonstruktion der Planungsprozesse innerhalb der preußischen Bauverwaltung lassen sich die Akteurskonstellationen nachweisen.

Die Umnutzung nach dem Auszug der Bibliothek ließen das Gebäude im Universitätskontext zum zweiten, „heimlichen“ Hauptgebäude der Universität werden. Dies wurde mit dem Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg (1964–1969) fortgeführt. Auch wenn mit den Umbauten fast die gesamte historische Bausubstanz entfernt wurde, wirkte die Bipolarität Kontinuität – Bruch weiterhin. Die fast aufgehobene Diskrepanz zwischen Fassade und Innerem wurde erneuert und darüber hinaus die Raumkonzepte des 19. Jahrhunderts immateriell tradiert. Das heutige stark überformte Gebäude steht daher in einer außerordentlichen Übereinstimmung mit dem Ursprungsbau, der mit seiner hochbarocken Fassade und dem hochmodernen Nutzungskonzept ebenfalls die Vergangenheit mit der Zukunft verband.

Die Dissertation ist im Juni 2020 unter dem Titel „Die Königliche Hofbibliothek in Berlin 1774—1970. Ein Bauwerk zwischen Tradition und Transformation“ in der Reihe Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin, hg. vom Landesdenkmalamt Berlin, im Gebr. Mann Verlag erschienen.

Bearbeiterin: Elke Richter