Die Räume der Anderen

Eine Archäologie queerer Räume im Berlin der 1920er und
frühen 1930er Jahre


Als »eines der einschneidendsten Erlebnisse (seines) Lebens« beschreibt Christopher Isherwood, Schriftsteller, Zeitzeuge und später eine der wichtigsten öffentlichen Personen der frühen Homosexuellenbewegung, in seiner Autobiografie einen Besuch in einem Kreuzberger Homosexuellenlokal im Jahr 1929. Auch Jahrzehnte später erinnert er sich an »eine Spur jenes köstlichen Prickelns und jenes Herzklopfens (…), die Christopher empfand, als [sein Freund] Wystan den schweren Ledervorhang zu einem »Jungenlokal« zurückschob, das sich »Cosy Corner« nannte.« Er beschreibt hier einen Schwellenraum, der fast utopisch erscheint – eine Schwelle im doppelten Sinne, die einerseits räumlich wirkt, andererseits den Akt des Eintretens in die eigene sexuelle Identität markiert. Isherwoods Werk steht stellvertretend für eine Generation, die zum ersten Mal in nicht-normativen Verständnissen von Gender und Sexualität etwas Reizvolles sieht, das in Berlin zu einer – mitunter kontroversen – Attraktion wird.

Die Stadt Berlin ist in den 1920er und frühen 1930 Jahren das Zentrum von Entwicklungen, die als Meilensteine der Homosexuellenbewegung sowie der Trans*-Bewegung gelten können. Parallel zu grundlegenden Forschungsanstrengungen, die sich nicht-normativer Auslebung von Gender und Sexualität zum ersten Mal frei von Moralvorstellungen annehmen, zählt die Stadt Berlin – auch was das Vergnügen angeht – zu den bedeutendsten Zentren für queere Menschen weltweit. Damals wie heute stellen Lokale für Ausgehen und Tanz wichtige Orte für die queere Szene dar, sind Safe-Spaces frei von den Zwängen des normativ geprägten Alltags, Orte des Experiments und der authentischen Selbstdarstellung. In der kurzen Zeit zwischen den beiden Weltkriegen explodiert die Anzahl jener Lokale, die sich explizit an ein queeres Publikum richten und alle Schichten der Gesellschaft abdecken. Der Ruf der Stadt als Ort der sexuellen Freiheit wie auch des dazugehörigen Lasters zieht Menschen von weit her an.

Durch die weitgehende Vernichtung der queeren Szene in der Frühzeit des Nationalsozialismus, sind die konkreten Orte der damaligen queeren Kultur nicht mehr Teil der kollektiven Erinnerung. Die Arbeit soll ein Schlaglicht auf sie werfen und den Versuch wagen, einige davon zu beschreiben und letztlich zeichnerisch zu rekonstruieren. Dabei stellt sich die Frage, ob in der Zeit – analog zu dem in den 1920er Jahren gewandelten und von der queeren Kultur beeinflussten Körperbild – ein spezifisches queeres Raumbild entsteht: Es soll ausgelotet werden, ob die betroffenen Orte räumliche Gemeinsamkeiten aufwiesen, welche Codes ihnen zugrunde lagen, ob und wie sie sich im Stadtraum zeigten. Handelte es sich um Gegenräume zur normativen Kultur oder angepasste Räume? Können, so die Grundfrage, Räume überhaupt queer sein oder ist diese Zuschreibung eine Frage der Nutzung?

Da viele Informationen über diese Orte seit der Zeit des Nationalsozialismus – im übertragenen Sinne – verschüttet sind, gleicht das Vorhaben einem archäologischen Projekt: Bildmaterialien, Quellen von Zeitzeugen, Berichte und Anzeigen in Zeitschriften der Zeit etc. sollen Schicht für Schicht freigelegt werden und bilden die Grundlage für die Rekonstruktion einzelner, bislang verlorener gegangener, queerer Orte.

Gerald Friedel (er/sein) arbeitet als Architekt und Hochschullehrer. Er hat nach seinem Studium an der UdK Berlin und der ENSA Paris La Villette über 10 Jahre als Generalist in namhaften Architekturbüros gearbeitet, unter anderem bei Max Dudler. Er ist freiberuflich tätig und widmet sich seit 2023 verstärkt der universitären Lehre als akademischer Mitarbeiter an der BTU Cottbus-Senftenberg, zuletzt ergänzt um die forschende Arbeit zu queeren raumbezogenen Fragen.

Kontakt
gerald.friedel(at)b-tu.de

Betreuer
Prof. Dr. Albert Kirchengast

Beginn
SoSe 2024