Vladimir Gregorjewitsch Šuchov (1853 – 1939) Würdigung

Šuchovs Leben und Werk ist sehr an die Firmengeschichte des Bari-Unternehmens (1878-1918) und dessen späterer verstaatlichter Form geknüpft. Für dieses Unternehmen war Šuchov von seiner Gründung an tätig. 

Für Russland und die UDSSR hat Šuchov Großes geleistet. In seinem Lebenswerk zeichnet sich ganz deutlich die Wirtschaftsgeschichte seines Heimatlandes ab. Seine Biographie und die Wirtschaftsgeschichte Russlands sind eng miteinander verwoben. Für letztere war er treibender Geist in der Entwicklung der Schwerindustrie. In unmittelbarer Folge davon trug er direkt durch seine Konstruktionen in der Erdölindustrie (Erdölbehälter und Tankschiffe), der Wärmetechnik (Dampfrohrkessel) und im Bauwesen (Wassertürme, Brücken, Bahnsteighallen, Sendeturm und Stromleitungsmaste) zum Ausbau der Infrastruktur Russlands im ausgehenden 19. Jahrhundert und den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bei. 

Durch sein Streben nach sparsamen, mit geringstem Aufwand an Material und Kosten herzustellenden Konstruktionen konnte Russland bereits zur Pariser Ausstellung von 1900 zusätzlich zu Objekten aus russischen Manufakturen und Handwerksbetrieben auch Erzeugnisse der Schwerindustrie und des Maschinenbaus präsentieren, wohingegen Russland noch auf der Weltausstellung von 1851 in London ausschließlich mit Erzeugnissen der Landwirtschaft und des Handwerks präsent gewesen sein soll.

Zu Recht gilt Šuchov als einer der bedeutendsten Ingenieure Russlands und als herausragender Konstrukteur des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. 

Nach seinem Studium wollte er 1876 sein Leben nicht einer rein wissenschaftlichen Tätigkeit widmen und lehnte damals eine karriereaussichtsreiche Tätigkeit bei dem berühmten Mathematiker Pafnutij F. Čebyšev ab. Stattdessen wollte er immer den praktischen Nutzen aus wissenschaftlichen Arbeiten ziehen. Und so folgte er diesem Ziel mit seinem Lebenswerk aus grundlegenden wissenschaftlichen Arbeiten sowie deren Anwendung bzw. Auswertung in einer Vielzahl von technischen Erfindungen und Entwicklungen.

Für seine Konstruktionen nutzte er die Mathematik in Verbindung mit der Mechanik. Es scheint, Šuchov war von der praktischen Anwendung mathematischer Beschreibungen fasziniert, was seine Bestrebungen im Studium zum Mechanik-Ingenieur am Polytechnikum bestätigen. Für jede Konstruktion soll er nach Aussagen von Tomlow eine spezifische Argumentationskette aus Mathematischen Gleichungen erarbeitet haben [TOMLOW 1990]. Entwurfsentscheidungen traf er nur mit rechnerischer Analyse des einzelnen Bauelements in Beziehung zur Gesamtkonstruktion.

Sein grundsätzlich wissenschaftliches Vorgehen verhalf ihm immer wieder Lösungen auf neue technische Probleme zu finden. Schnell konnte er sich von einem Problem auf ein anderes neues technisches Problem umstellen. 

Mit dem Blick auf die leichten, weit spannenden Gitterschalen, Hängedächer und die neue rationale Bauform der Hyperboloid-Gittertürme, kann Šuchov als Wegbereiter moderner Flächentragwerke von Zelt- und Hängedächern, Schalen und Faltwerken angesehen werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es zur Verbreitung dieses neuen Tragwerktyps. Dächer in Gitterstrukturen, hängende Dächer und Dächer, die wie Hängedächer anmuten, wurden in der Nachkriegszeit über all auf der Welt gebaut. Beispiele hierfür sind der deutsche Pavillon in Montreal von 1967 und die weiterentwickelte Idee von Frei Otto für die Multihalle in Mannheim in einer pneumatischen Form.

Während des Kalten Krieges verloren Šuchovs Ingenieurleistungen im Westen an Bekanntheit. Erst nach dem politischen Umbruch 1989 fanden seine Konstruktionen wieder internationale Bewunderung. Das Buch „Vladimir G. Šuchov 1853-1939 - Die Kunst der sparsamen Konstruktion“ von 1990 stellte erstmals nach 1889 Šuchovs Werk außerhalb der Sowjetunion vor [GRAEFE/ GAPPOEV/ PERTSCHI 1990]. 

Ein Zitat aus dem Vorwort der angesprochenen Publikation gibt eine zusammenfassende Würdigung von Šuchovs Lebenswerk:
„Šuchov war ein Meister der Kunst, sparsam, mit geringstem Aufwand an Material und Kosten zu konstruieren. Seine Hängedächer, Bogenkonstruktionen, Gitterschalen und Gittertürme in Form von Hyperboloiden waren neuartige Lösungen, die durch Einfachheit und Eleganz der Konstruktion und durch ungewohnte, kühne Formgebung seinerzeit Bewunderung hervorriefen. Sie stellen einen Abschluss und Höhepunkt in der Entwicklung der eisernen Baukonstruktionen des 19. Jahrhunderts dar und nehmen künftige Entwicklungen vorweg.“ [GRAEFE/ GAPPOEV/ PERTSCHI 1990, S. 7]