Eladio Dieste Saint Martin (1917 – 2000) Würdigung
Eladio Diestes Schaffenswerk überzeugt durch kreative Resultate ebenso wie durch eine Vielfalt an Projekten. Jedoch ist es vor allem der Weg zu den insgesamt mehr als 1'500'000 überbauten Quadratmetern, der Dieste zu einer herausragenden Ingenieurpersönlichkeit macht. Er entwickelte eine neuartige Konstruktionstechnik entscheidend weiter, die bestimmte Prinzipien aus dem traditionellen Ziegelbau aufgreift und mit den Methoden des Stahlbetonbaus verknüpft. So schuf Dieste eine ihm eigene Bauweise, die die Vorteile aus zwei bewährten und gängigen Konstruktionsarten in sich vereint. Die Idee ein Gesamtgefüge aus vielen kleinteiligen, seriell produzierten Einzelteilen herzustellen, wird mit der Vorstellung eine homogene Masse in eine der Bauaufgabe angepassten Form zu bringen, vermischt. Diese Mischung ermöglicht einen einfachen und schnellen Herstellungsprozess, kurze Bauzeiten, minimierten Materialaufwand sowie geringe Baukosten. Sie schafft aber dennoch genug Freiraum für eine ideenreiche und kreative Gestaltung, die auf unterschiedliche Bauaufgaben frei und individuell reagieren kann.
Ebenso wie dieses „selbstentwickelte Material“ grenzt sich Dieste durch neuartige Techniken, Technologien und individuelle Lösungen stark von seinen Berufskollegen ab – oder anders – er ist vergleichbar mit Ingenieurgrößen wie Felix Candela (1910-1997) und Pier Luigi Nervi (1891-1979). Dieste lässt sich allerdings nicht allein auf die Weiterentwicklung des Ceramica armada, das bewehrte Mauerwerk, und den damit verbundenen neuen Technologien herunterbrechen. Dieste ist Ästhet, Entwerfer und entwickelt mit seinen Bauten eine eigene Formensprache. Die Idee einer ganzheitlichen Form, die auf Tragwerk und Konstruktion reduziert bleibt, verkörpert die Gedanken der Moderne wie „form follows function“ und „less is more“. Dennoch wirken dieselben Formen gleichfalls minimalistisch wie expressiv. Auch verbindet der enge Zusammenhang zwischen Konstruktion, Tragwerk, Gestaltung, Raumerlebnis und Herstellungsprozess Diestes Bauwerke in einem solchen Maß, das sich nur selten und vereinzelt bei anderen Architekten und Ingenieuren finden lässt.
Diese Einheit lässt sich zum einen auf das umfangreiche Können als Architekt, Ingenieur und Bauunternehmer zurückführen. Planung und Gestaltung, Detaillierung und Berechnung sowie Organisation und Leitung des Bauprozesses kommen aus einer Hand und können sich daher auch in den hohen Ansprüchen ergänzen. Zum anderen begründet sich dieses Ineinandergreifen durch den hohen Ehrgeiz Diestes. Stets war er auf der Suche nach neuen Herausforderungen, gab sich jedoch nicht mit der ersten oder naheliegendsten Lösung zufrieden. Vor allem der Anfang seiner Karriere als Ingenieur war geprägt von einer stetigen Erforschung von Materialeigenschaften, Konstruktionstechniken und Technologien. In zahlreichen Experimentalbauten entwickelte Dieste immer wieder neue und individuelle Lösungen, die das Bauen in Ländern und Regionen mit geringem technischem Standard und unter Einsatz von lokal vorhandenen Mitteln vereinfachten. Sicherlich konnten oft erst dadurch einzelne Projekte verwirklicht werden.
Die Anerkennung und Wertschätzung Diestes durch seine Zeitgenossen zeigen sich durch zahlreiche Titel, Auszeichnungen und Preise. So wurde ihm zunächst umgehend nach dem Abschluss seines Bauingenieurstudiums von eben jener Fakultät, an der er studiert hatte, die Professur für theoretische Mechanik angeboten. Weitere zehn Jahre später wurde ihm sogar noch der Lehrstuhl für Brückenbau und große Konstruktionen übertragen. Ebenso wurde er zum Honorarprofessor der architektonischen Fakultät der Universität Montevideo sowie zum Honorarprofessor der Fakultät für Architektur und Städtebau der Universität Buenos Aires ernannt. Aufgrund seines außerordentlichen Talentes und seiner großen Leistungen wurde Dieste darüber hinaus 1991 mit dem Amerikapreis für das beste Lebenswerk geehrt. Eine kleine Besonderheit stellt der Dieste 1990 verliehene Gabriela-Mistral-Preis dar, da dieser keine fachgebundene Auszeichnung ist, sondern von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) an bedeutende Persönlichkeiten, wie beispielsweise auch dem Poprock-Sänger Sting, verliehen wird. Von großem internationalem Ansehen zeugen auch die zahlreichen Einladungen zu Gastvorträgen, Vorlesungen und Kursen verschiedener Universitäten sowie internationaler Ingenieur- und Architekturverbände.