Wahrheit und Fake im postfaktisch-digitalen Zeitalter. Distinktionen in den Geistes- und IT-Wissenschaften Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen | 24.–26.02.2020
„Postfaktisch“ wurde von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Wort des Jahres 2016 gewählt und in Großbritannien wurde im gleichen Jahr „post-truth“ zum Wort des Jahres gekürt. Der lockere Umgang mit der Wahrheit in der Politik sowie die Verbreitung von „Fake News“ und „alternativen Fakten“ sind ein Krisensymptom unserer Zeit. Der Fall Relotius offenbart zudem ein Glaubwürdigkeitsproblem des Journalismus und zeigt, wie schwierig es selbst für Redakteure und Faktenchecker ist, Wahrheit und Fiktion auseinanderzuhalten. Zwar sind Fake News und Desinformationskampagnen kein neues Phänomen, aber mit dem Internet und den sozialen Medien steht eine Technologie zur Verfügung, mit der Falschmeldungen und Verschwörungstheorien schneller und effektiver verbreitet werden können als je zuvor. Mit Hilfe von Social Bots können Wahlentscheidungen beeinflusst und manipuliert werden. Desinformationskampagnen stellen somit auch eine Gefahr für unsere Demokratie dar. Es stellt sich daher umso drängender die Frage was Wahrheit überhaupt ist, ob Wahrheit lediglich eine soziale Konstruktion ist und wie man Wahrheit von Falschheit und Lüge unterscheiden kann. Und nicht zu vergessen: Welche Rolle nimmt hinsichtlich Wahrheit und Falschheit, Wahrheit und Fake eigentlich Fiktionalität ein? Welche Differenzierungen sind überhaupt möglich, welche sind sinnvoll? Können bestehende Wahrheits- und Medientheorien erstens eine adäquate Bestimmung von Wahrheit im Allgemeinen und medialisierter Wahrheit im Besonderen liefern und zweitens verlässliche Kriterien an die Hand geben, um zwischen Wahrheit und Falschheit einerseits und Faktizität, Fiktionalität und Fake andererseits zu unterscheiden? Oder braucht es modifizierter oder gar neuer Theorien und Modelle?
Die rasche Verbreitung von Fake News und die Beeinflussung von Wahlen durch Social Media kann als Folge der Digitalisierung gesehen werden. Falschmeldungen und Desinformationskampagnen können heute automatisch generiert und verbreitet werden. Um diesen Fehlentwicklungen Einhalt zu gebieten, ist die Informationstechnik gefragt. Mit intelligenten Algorithmen und einer verfeinerten Datenanalyse sollen in Zukunft Fake News schneller erkannt und deren Verbreitung verhindert werden. Um jedoch Fake News mittels künstlicher Intelligenz zu erkennen und zu filtern, muss Fake von Fakten, Fakten von Fiktionen und Fiktionen von Fake unterschieden werden können. Welche Definition und Vorstellung von Fake, Wahrheit, Falschheit, Faktizität und Fiktionalität liegt den aktuellen Techniken zugrunde? Sind die Definitionen explizit oder lediglich implizit durch das Lernmaterial bspw. für künstliche neuronale Netze gegeben? Was sind dahingehend inhaltliche, technische oder methodische Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft?
Eine adäquate medien- und erkenntnistheoretisch fundierte und reflektierte sowie empirisch und technisch validierte Modellierung von Wahrheit, Falschheit, Fakten, Fake und Fiktion stellt immer noch ein Desiderat dar. Ein Dialog und noch mehr eine Kollaboration von Medien- und Kommunikationswissenschaften sowie der Philosophie einerseits und den Computer- und Ingenieurwissenschaften andererseits scheint daher nicht nur wünschenswert, sondern unabdingbar. Die Tagung soll durch 30-minütige Referate ausgewiesener Fachwissenschaftler*innen aus den genannten und benachbarten Wissenschaften und eine daran anschließende, offene Diskussion im Plenum eine Plattform für diesen Dialog bieten und zu einer zukünftigen Kollaboration zwischen den Wissenschaften animieren.
Zur Konferenzorganisation:
Die Konferenz ist als dreitägige Veranstaltung am 24. (halbtags), 25. (ganztags) und 26. (halbtags) Februar in der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen geplant. Der Tagungsort steht als ehemalige Haftstätte des NKWD und des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR beispielhaft dafür, wie falsche Nachrichten und ideologische Wahrheiten auch das Leben von Individuen in letzter Konsequenz zerstören können. Aufbauend auf den Konferenzbeiträgen soll eine Peer-Review-Publikation entstehen. Die publikationsfähigen Beiträge sollen zeitnah nach der Konferenz abgegeben werden, sodass die Publikation spätestens ein halbes Jahr nach der Konferenz erscheinen kann. Daraus ergeben sich folgende Termine:
- 24.–26. Februar: Tagung
- 31. März für die Einreichung der Artikel (35.000–55.000 Zeichen)
- 30. April für den Erhalt der Reviews
- 31. Mai für eine evtl. Überarbeitung des Artikels
ReferentInnen:
Prof. Dr. Rafael Capurro war Professor für Informationswissenschaft und Informationsethik an der Hochschule der Medien Stuttgart. Er ist u.a. Gründer des International Center for Information Ethics sowie Mitglied des European Group in Ethics in Science and New Technologies der EU-Kommission.
Prof. Dr. Simone Dietz ist Inhaberin des Lehrstuhls für praktische Philosophie an der Universität Düsseldorf. Sie forscht zum Thema Lüge und hat 2017 die Monographie „Die Kunst des Lügens“ vorgelegt.
Prof. Dr. Axel Gelfert ist Inhaber des Lehrstuhls für Theoretische Philosophie an der TU Berlin. 2018 hat er in der Zeitschrift Informal Logic eine überzeugende Definition von Fake News vorgelegt.
Felix Hamborg ist Doktorand an der Data & Knowledge Engineering Group der Universität Wuppertal. Sein aktueller Forschungsschwerpunkt liegt in der automatischen Identifikation von Media Bias in Nachrichtenartikeln.
PD Dr. Dr. Peter Klimczak ist Privatdozent an der Brandenburgischen Technischen Universität und Gastprofessor am University College Dublin. In seiner Forschung widmet er sich u.a. der Modellierung von medienwissenschaftlichen Theorien und Konzepten mittels symbolischer Logik und Mengentheorie.
Dr. Andreas Neumann ist Projektmitarbeiter an der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen. Er setzt sich in seiner Forschungsarbeit mit der Geschichte der DDR im Spannungsfeld von Fiktionalitität, Faktizität und Fake auseinander.
Prof. Dr. Christer Petersen ist Leiter des Fachgebiets Angewandte Medienwissenschaften an der Brandenburgischen Technischen Universität. Seine Forschung konzentriert sich u.a. auf die Analyse fiktionaler Formate sowie Skandal- und Verschwörungsdiskurse.
Prof. Dr. Christian Reuter ist Universitätsprofessor für Wissenschaft und Technik für Frieden und Sicherheit an der TU Darmstadt. Er hat an der Entwicklung des Browser-Plugins TrustyTweet mitgewirkt, welches auf Twitter Indikatoren für Fake News für die Nutzer kennzeichnet.
Prof. Dr. Ulrich Schade ist Leiter der Abteilung Information Technology for Command and Control am Fraunhofer Institute for Communication, Information, Processing and Ergonomics sowie Professor an der Universität Bonn. Er programmiert künstliche neuronale Netzwerke, um Fake News zu erkennen.
Prof. Dr. Christian Schicha ist Universitätsprofessor für Medienethik am Institut für Theater- und Medienwissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er erforscht u.a. ethische Aspekte von Social Media und Fake News.
Jörg von Bilavsky ist Leiter des Bereich Bildung und Vermittlung der Gedenkstätte Hohenschönhausen. Zuvor war er als (freier) Journalist tätig.
Prof. Dr. Thomas Zoglauer war Leiter des Arbeitsgebiets Technikphilosophie an der Brandenburgischen Technischen Universität. Zuletzt konzentriert sich seine Forschungsarbeit zu Ethik und Wissenschaftstheorie in technischen Kontexten.
Reviewer: (weitere Reviewer folgen)
Prof. Dr. Christoph Bläsi (Mainz), Prof. Dr. Manuel Burghardt (Leipzig), Prof. Dr. York Hagmayer (Göttingen), Prof. Dr. Larissa Krainer (Klagenfurt), Prof. Dr. Wulf Kellerwessel (Aachen), Prof. Dr. Claudia Müller-Birn (Berlin), PD Dr. Florian Mundhenke (Leipzig), Prof. Dr. Christer Petersen (Cottbus), Prof. Dr. Florentine Strzelczyk (Calgary), Prof. Dr. Ralf Stoecker (Bielefeld), Prof. Dr. Izabela Surynt (Wrocław), Prof. Dr. Tatjana von Solodkoff (Dublin), Prof. Dr. Jan-Noël Thon (Nottingham), Prof. Dr. Karsten Weber (Regensburg), Prof. Dr. Matthias Wieser (Klagenfurt), Prof. Dr. Günther Wirsching (Eichstätt)
Organisation:
PD Dr. Dr. Peter Klimczak (Cottbus/Dublin), Dr. Andreas Neumann (Berlin), Prof. Dr. Thomas Zoglauer (Cottbus)