Guarino Guarini (1624 – 1683) Biografie

Tabellarische Biografie
JahrEreignis
1624Am 17. Januar Geburt in Modena, Emilia-Romagna, Italien.
1639Im Alter von 15 Jahren Eintritt in den Theatiner-Orden in Modena.
1639-1647Noviziat und Studium in Rom. Einfluss von Francesco Borromini (1599-1667) auf die Entwicklung des jungen Guarini.
1647Rückkehr nach Modena.
1648Priesterweihe in Modena.
Um 1650Ernennung zum Dozenten für Mathematik und Philosophie in Modena.
1654Erhebung Guarinis zum Propst in Modena.
1655Streit mit dem Hause Este und infolge Vertreibung aus Modena.
1655(?)Eintritt in das Theatiner-Kloster von Parma, Emilia-Romagna, Italien.
1655/ 1656Reisen als Baumeister nach Guastalla (Emilia-Romagna, Italien), Prag (Region Hlavní město Praha, Tschechien (damals: Königreich Böhmen)) und Lissabon (Region Lisboa, Portugal (damals: Königreich Portugal).
1657-1659Vermutlicher Arbeits- und Studienaufenthalt in Spanien.
1660Nach seiner Zeit in Spanien Arbeit an drei Kirchen in Messina, Sizilien, Italien (damals: Königreich Sizilien), darunter das Gotteshaus Santissima Annunziata (Abb. 2.04).
1660-1662Professur für Mathematik in Messina, Sizilien, Italien.
1660Veröffentlichung des Werkes “La Pieta trionfante“ während seiner Zeit in Messina.
1662Beginn eines mehrjährigen Aufenthalts in Paris und Arbeit an der Theatiner-Kirche Sainte Anne-la-Royale (Abb. 2.05).
1662Reise nach Modena zur im Sterben liegenden Mutter.
1662-1666Lehrkörper für Mathematik und Philosophie in Paris, Île-de-France, Frankreich (damals: Königreich Frankreich).
1665Veröffentlichung des Traktates “Placita Philosophica”.
1666Vermutlich auf Ruf der Theatiner in Turin und der Adelsfamilie Savoyen Abreise von Paris nach Turin (Piemont, Italien; ital.: Torino, Piemonte, Italia; damals: Fürstentum Piemont).
1667Entwürfe für seine vermutlich bekanntesten Projekte – die Kirche San Lorenzo und die Cappella della Sacra Sindone (Abb. 2.06-2.07).
1668Ernennung Guarinis zum Hofbaumeister des Herrschaftsgeschlechts Savoyen.
1674-1677Schriftstellerische Hauptphase Guarinis? Binnen von vier Jahren Erscheinung von fünf Traktaten.
Ab 1676Infolge seiner neuen beruflichen Position als Hofbaumeister Erweiterung seines Arbeitsspektrums. Unter anderem Bau von Palästen für die Familie Savoyen (siehe Projektliste).
1678Baubeginn des Collegio dei Nobili in Turin, einer sogenannten Ritterschule. Heute Sitz des Ägyptischen Museums (siehe Projektliste).
1679Palazzo Carignano in Turin – Entwurf und beginnende Bauarbeiten (Abb. 2.08).
1683Am 6. März Ableben des Hofbaumeisters und Ordenspriesters Guarino Guarini in Mailand (Lombardei, Italien).
1686Posthume Erscheinung von „Dissegni d’architettura civile et ecclesiastica“ in Turin.
1737Posthume Veröffentlichung des schriftstellerischen Hauptwerkes Guarinis „Architettura civile“ in Turin.

Ausführliche Biografie

Weg zum Ordenspriester, 1624-1653

Am 17. Januar 1624 wurde Camillo Guarino Guarini in Modena geboren (Abb. 2.02) [ANDEREEG-TILLE 1962, S. 15; MEEK 1988, S. 5]. Hier, in der italienischen Stadt, die mitten in der Region Emilia-Romagna liegt, wuchs Guarino ebenfalls auf. Modena bildete im 17. Jh. ein eigenständiges Herzogtum, welches zum Adelsgeschlecht Este gehörte und in jener Zeit auch der Hauptsitz der Familie war. Guarino war gerade einmal 15 Jahre, als er 1639 dem streng enthaltsamen und noch recht jungen Theatiner-Orden (gegr.: 1524; ital.: Ordine dei Teatini) in Modena beitrat. Die Theatiner waren erst seit wenigen Jahren in Modena ansässig. Die ersten Monate seiner Ausbildung wird Guarino Guarini noch in dem ansässigen Kloster, welches vermutlich um die Kirche von San Vincenzo bestand, verbracht haben, bevor er sein rund 8-jähriges Noviziat inklusive Studium in Rom antrat (1639; abweichend hiervon nennt Maria Anderegg-Tille das Jahr 1640 [ANDEREGG-TILLE 1962, S. 15]). In Rom, im Kloster San Silvestro al Quirinale, erhielt er die Ausbildung zum Ordenspriester, die wohl den „Grundstein“ seines späteren Schaffens darstellte. Er wurde eingeführt in die Künste der Philosophie und war fasziniert von der Mathematik, insbesondere der Geometrie. Stark beeinflusst wurde er durch Francesco Borromini (1599-1667), welcher in diesen Jahren seine Glanzzeit als Baumeister erlebte und Guarinis Lehrmeister(?) war. Im Jahre 1647 kehrte Guarini in seine Heimatstadt Modena zurück. Im folgenden Jahr erhielt er hier seine Priesterweihe. Schnell stieg Guarini im hierarchischen System des Ordens auf. Vermutlich arbeitete er als Revisor, Betriebsleiter der Arbeiten im Kloster, Schatzmeister, Lehrer in Philosophie und Prokurator. Um 1650 wurde Guarini offiziell zum Dozenten der Mathematik und der Philosophie ernannt.

Guarini auf Reisen, 1654-1659

1654, im Alter von 30 Jahren, folgte die Ernennung Guarinis zum Propst, was vermutlich mit dem Vorsteher/ Leiter des Klosters in Modena gleichzusetzen ist. Guarini begann daneben zunehmend als Baumeister zu arbeiten (siehe Projektübersicht). Seine Schaffenszeit in Modena ging jedoch langsam dem Ende entgegen: Nach einer Meinungsverschiedenheit mit Prinz Alfonso IV. d’Este (R 1658-1662) im Jahre 1655 war Guarini gezwungen, Modena zu verlassen. Er ging wohl in die etwa 60 Kilometer entfernte Stadt Parma (Emilia-Romagna, Italien). Die Stadt gehörte in jener Zeit zum gleichnamigen Herzogtum, welches von der Adelsfamilie Farnese geführt wurde. In Parma trat Guarino Guarini 1655(?) in das dortige Theatiner-Kloster ein. Die folgenden Lebensjahre Guarinis sind nur lückenhaft dokumentiert und entsprechend ungenau bzw. widersprüchlich in der genutzten Literatur beschrieben. Darin heißt es, dass Guarini 1655/ 1656 nach Guastalla (Emilia-Romagna, Italien (damals: Herzogtum Guastalla)) und vermutlich Prag (Region Hlavní město Praha, Tschechien (damals: Königreich Böhmen)) sowie Lissabon (Region Lisboa, Portugal (damals: Königreich Portugal)) reiste, wo er bei Gründungen neuer Niederlassungen des Theatiner-Ordens seine Baumeisterfähigkeiten unter Beweis stellte. Weiter wird angenommen, dass es Guarini 1657 aus den gleichen Gründen weiter nach Spanien zog. Hier blieb er wohl etwas länger, möglicherweise bis 1659, und studierte intensiv die maurische Architektur vor Ort (Abb. 2.03 und 3.18). Dass er in diesen Jahren sein Können auf der Iberischen Halbinsel weiterentwickelte und seine Baumeisterfertigkeiten sowie seine „Baumeisterhandschrift“ verfeinerte, zeigt sich deutlich in seinem architektonischen Werk, welches ab 1660 besser dokumentiert ist. Manche Quellen sparen jedoch Guarinis vermutlichen Spanienaufenthalt aus und Lissabon wird als längerer Stopp (1657-1660) des Baumeisters angesehen [Vgl. SCHNEIDER 1997, S. 16]. Gerd Schneider erklärt diese Biografieversion mit seiner Datierung des Entwurfes der Santa Maria della Divina Providencia in das Jahr 1660 (Abb. 3.07). Gemeinhin nimmt die Literatur abweichend an, dass es sich bei diesem Entwurf einer Theatiner-Kirche in Lissabon um ein eher spätes Werk Guarinis handelt, weswegen es mit den Jahren 1679 und 1681 in Verbindung gebracht wird. Wie dem auch sei, der Kontakt Guarinis mit maurisch-arabischer Architektur lässt sich nicht leugnen, den er ebenfalls in Portugal sowie bei seiner nächsten längeren Station – Sizilien – gehabt haben kann, denn sowohl Portugal als auch die Mittelmeerinsel waren über Jahrhunderte hinweg unter muslimischer Herrschaft [Vgl. ANDEREGG-TILLE 1962, S. 25]

Professor, Autor und erste Erfolge als Baumeister, 1660-1666

1660 ging Guarini nach Sizilien, wo er bis 1662 in Messina wirkte. Obwohl Guarini über weltlich-politische Grenzen hinweg und scheinbar unabhängig jeder politischen Macht als Baumeister einer Ordensgemeinschaft zu seinen Kirchenbauprojekten reiste, könnte der Aufenthalt in Messina dafür sprechen, dass sich Guarini zuvor in Spanien aufhielt, denn das Königreich Sizilien gehörte in jener Zeit zu Spanien. Nach seiner Ankunft auf der italienischen Mittelmeerinsel begann er in der ostsizilianischen Stadt an der Theatiner-Kirche Santissima Annunziata zu arbeiten (Abb. 2.04). Zwei weitere Projekte sind für Guarinis Wirken bezeugt, von denen vermutlich nur eines, die Kirche San Filippo Neri, ebenfalls umgesetzt wurde. Erhalten hat sich keines dieser Bauwerke, da ein Erdbeben im Jahr 1908 Messina schwer erschütterte. Neben seiner Baumeistertätigkeit begann Guarini als Professor der Mathematik zu wirken. Darüber hinaus wurde er schriftstellerisch tätig: Sein erstes wissenschaftliches Werk „La Pieta trionfante“ erschien noch 1660. Guarini soll darüber hinaus in seiner Zeit in Messina ein Theaterstück verfasst haben. 
 
Bald zog es Guarini von Messina weiter nach Paris, wo er wohl zwischen dem 29.08. und dem 26.10.1662 eintraf [MÜLLER 1989, S. 29]. In der französischen Metropole brach er jedoch seinen Aufenthalt nach kurzer Zeit wieder ab, um zu seiner im Sterben liegenden Mutter nach Modena zu reisen. Ein Auftrag der bayrischen Kurfürstin, die aus dem Hause Savoyen stammte, zum Bau einer Theatiner-Kirche in München (Bayern, Deutschland, damals: Kurfürstentum Bayern) musste er bei diesen Umständen ausschlagen. Nach dem Tod der Mutter ging Guarino Guarini wieder zurück nach Paris. Dort lehrte er Mathematik und Philosophie und begann an einem neuen Traktat zu arbeiten, die “Placita Philosophica”. Die Hauptaufgabe Guarinis war wohl aber der Entwurf einer neuen Kirche für den Theatiner-Orden in Paris. Sie sollte all seine bisherigen Entwürfe übertreffen: Der Bau der Sainte Anne-la-Royale verzögerte sich jedoch wenige Jahre nach Baubeginn und wurde erst um 1720 durch andere Baumeister, vielleicht Schüler Guarinis, fertiggestellt (Abb. 2.05).

In Turin und am Hofe der Familie Savoyen, 1666-1679

Vermutlich auf gemeinschaftlichen Ruf des Theatiner-Ordens und der Adelsfamilie Savoyen brach Guarino Guarini zwischen dem 27.09. und dem 13.10.1666 seine Zelte in Paris ab und ging nach Turin [MÜLLER 1986, S. 48], wo er schließlich „sesshaft“ wurde und den Rest seines Lebens verbrachte. Im 17. Jh. herrschte das Adelsgeschlecht Savoyen (ital.: Savoia) über das Herzogtum Savoyen, das Fürstentum Piemont und einen westlichen Teil des Herzogtums Montferrat. Diese Ländereien befinden sich heute im Südosten Frankreichs sowie im Nordwesten Italiens und waren über Jahrhunderte hinweg Kriegsschauplatz der konkurrierenden Parteien Spanien und Frankreich, die um die Vormachtstellung in Italien rangen. Entsprechend geschunden und arm war der Landstrich. Die Bedeutung dessen, insbesondere des Fürstentums Piemont, sollte sich mit der Verlegung der savoyischen Hauptstadt im Jahr 1563 von Chambéry (Region Rhône-Alpes, Frankreich; damals: Herzogtum Savoyen) nach Turin (Piemont, Italien; damals: Fürstentum Piemont) und vor allem unter den Regenten Carlo Emanuele II. (dt.: Karl Emanuel II.; R 1648-1675) und Vittorio Amadeo II. (dt.: Viktor Amadeus II.; R 1675-1730) der Familie Savoyen ändern [ANDEREGG-TILLE 1962, S. 11]. Unter Carlo Emanuele II. wurde Piemont militärisch aufgerüstet. Viel wurde in den Festungsbau und in die Armeen investiert: Von Zeitgenossen Carlos wird über ihn gesagt, dass er „… eine solch große Zahl an Soldaten hätte, dass er nach Frankreich vor jedem anderen Staat den Vorzug verdiente.“ [ANDEREGG-TILLE 1962, S. 12]. Die eigentliche Blüte wurde jedoch unter Vittorio Amadeos II. erreicht, der durch militärische Erfolge gegenüber Frankreich territoriale Gewinne erzielen konnte. Infolge wurde Vittorio König von Sizilien, welches er später mit Sardinien eintauschte [ANDEREGG-TILLE 1962, S. 11-12]. Die Erfolgsgeschichte des Adelsgeschlechtes Savoyen schrieb sich auch in den nachfolgenden Jahrhunderten weiter: Ab 1861 stellte es bspw. die Könige des vereinigten Königreiches Italien. Zu Zeiten Guarino Guarinis war Turin noch schlecht entwickelt, doch standen durch die savoyischen Erfolge finanzielle Mittel zur Verfügung, die man gern in repräsentative Gebäude steckte. Vor, während und nach Guarini stellte Turin folglich ein Eldorado für Baumeister dar und glich einer riesigen Baustelle [ANDEREGG-TILLE 1962, S. 13-14].

Die Kirche San Lorenzo steht im engen Zusammenhang mit den militärischen Erfolgen der Herrschaftsfamilie: Infolge eines erfolgreichen Kriegsausgangs wollte das Haus Savoyen eine Kirche zu Ehren des Heiligen Laurentius stiften. Sie sollte dem Theatiner-Orden zur Verfügung gestellt werden, der sich 1634 auch in Turin niederließ. Für die sich bereits im Bau befindliche Kirche legte Guarini 1667 neue Pläne vor. Im Jahr 1668 wurde der Baumeister offiziell mit deren Bau betraut [MÜLLER 1986, S. 48-49] (Abb. 2.06, 3.09-3.17). Vermutlich war die Bauherrengemeinschaft – Savoyen und Theatiner – von den Arbeiten Guarinis überzeugt, weswegen der Baumeister im Jahr 1667 auch Pläne für die Cappella della Sacra Sindone, die als Kapelle des Turiner Doms und Aufbewahrungsort von Christis Grabtuch geplant war, erstellen sollte. Für die Nachbarbaustelle – San Lorenzo und die Kapelle liegen zueinander in circa 200 m Entfernung – erhielt Guarini ebenfalls 1668 den Zuschlag (Abb. 1.02, 2.07, 3.19-3.26). Im Zusammenhang mit diesen Bauwerken wurde 1668 Guarino Guarini zum Hofbaumeister der Savoyer ernannt, ein Höhepunkt im Leben Guarinis. In den folgenden Jahren kamen viele Baustellen hinzu, zu denen neben Kirchen auch Palastanlagen wie der Palazzo Carignano in Turin und das Castello Reale Racconigi in Racconigi gehörten (siehe Projektübersicht).

Die letzten Jahre und Guarinis „Erbe“, 1679-1683

„Padre D. Guarino Guarini“ (siehe Abb. 5.01 oder 5.02) war vermutlich auf dem Höhepunkt seines Schaffens, als er am 6. März 1683 in Mailand (Lombardei, Italien (ital.: Milano, Lombardia, Italia; damals: Herzogtum Mailand)) verstarb. In den letzten Jahren seines Lebens war er ein vielbeschäftigter Mann und scheint mitten im Arbeitsprozess, quasi zwischen Baustelle und Zeichentisch – sieht man vom Ort seines Todes ab – verstorben zu sein. In den Jahren zeichnete er viele Entwürfe, zu denen auch Kirchenbauprojekte in Lissabon und Prag zählten (siehe Guarinis Projektübersicht). Viele Bauprojekte waren am Laufen: Jeweils eines in Vicenza (bis 1680), Racconigi, Ceva und Montanaro sowie fünf in Turin. Zu diesen gehörte auch der Palazzo Carignano (1679-1685; siehe Abb. 2.08, 3.27-3.30). Er hinterließ sie unfertig. Ehemalige Bauführer und andere Baumeister, darunter namhafte Barockbaumeister wie Filippo Juvarra († 1736; eigentlicher Familienname: Guevara) [ANDEREGG-TILLE 1962, S. 18] und Bernardo Antonino Vittone (* 1700) [ANDEREGG-TILLE 1962, S. 18], arbeiteten an diesen weiter und brachten die Projekte zum Abschluss. Auch schriftstellerisch war Guarini bis zu seinem Tode tätig. 1683 erschien das zweiteilige Werk „Caelestis Mathematicae“. Zwei weitere Traktate erschienen posthum, wovon „Architettura civile“ aus dem Jahr 1737 als sein Hauptwerk gilt. Für die Veröffentlichung von Guarinis letztem Werk zeichnete sich ebenfalls der oben bereits genannte Vittone verantwortlich. Nicht überraschend ist es, dass dieser Baumeister stilistisch in die Fußstapfen Guarinis trat [Vgl. ANDEREGG-TILLE 1986, S. 18], ohne dabei ein direkter Schüler Guarinis gewesen zu sein.

Bei Vergegenwärtigung der Arbeitssituation des Baumeisters erstaunt es, dass Guarini bei seinem Tod in Mailand weilte. Reisen scheinen bei diesem Arbeitspensum schier undenkbar. Vermutlich konnte Guarini auf gute Bauführer zurückgreifen, die in seiner Abwesenheit die Arbeiten verantwortungsvoll leiteten. Von Maria Anderegg-Tille erfahren wir die Namen von zweien: Garue und Baroncelli [ANDEREGG-TILLE 1968, S. 17]. Was aber führte Guarini nach Mailand? Sind die Gründe bei einem neuen Projekt zu suchen oder war Guarini als Ordenspriester in geistlicher Mission unterwegs? Sollte letzteres den Reisegrund darstellen, wäre es denkbar, dass der bis zum Arbeitsende des vorliegenden Ingenieurartikels unbekannte Standort des Grabes von Guarini vielleicht in der Theatiner-Kirche S. Antonio Abate bzw. dem angeschlossenen Kloster in Mailand zu suchen wäre. Jedoch konnten die Priester vor Ort auf eine entsprechende Anfrage keine Antwort geben.

Hofbaumeister und Ordenspriester

Guarini verknüpfte zwei „Jobs“ – einen weltlichen und einen geistlichen – in seiner Person; ein interessantes Konstrukt, welches scheinbar in die damalige Welt passte, in der Glaube keine Privatsache war und wo Religion und weltliche Macht miteinander verschwommen. Aber was lässt sich unter einem Hofbaumeister und einem Ordenspriester im Detail verstehen? Welche Aufgaben verknüpf(t)en sich mit einem Hofbaumeister oder einem Ordenspriester? Und wie ließen sich beide „Professionen“ miteinander vereinbaren?

Ein Baumeister übernahm im Allgemeinen die Kontrolle und Planung der Ausführung von Bauarbeiten aller Art. Natürlich unterlagen ihm darüber hinaus der architektonische Entwurf und die Tragwerksplanung. Oft stammte der Baumeister aus einem Gewerk wie Steinmetz oder Zimmermann (siehe bspw. Hans Ulrich Grubenmann (1709-1783), Peter Parler (1330 oder 1333-1399) oder Wilhelm von Sens († 1180)). Wie im Falle von Guarino Guarini konnte er auch theoretische, wissenschaftliche Kenntnisse durch christliche Schulen und den aufkommenden Universitäten erhalten haben. Ein an den Sitz eines Fürsten oder Herrschers berufener Baumeister wurde zum „ingegnere ducale” [Vgl. ANDEREGG-TILLE 1968, S. 15], auf Deutsch “Herzoglicher Ingenieur” bzw. Hofbaumeister. Dieser wurde mit öffentlichen Bauvorhaben und Bauprojekten der Herrscherhäuser in privater Hinsicht betraut. Um zum Hofbaumeister ernannt zu werden, musste derjenige berufliche Erfahrung und einen gewissen Grad an Kreativität mitbringen. Manche konnten durch ihre erfolgreichen Bauvorhaben am Hofe einen hohen Lebensstatus erreichen und erlangten eine gewisse Berühmtheit, welche sie auch für andere Fürstenhäuser interessant machte. Da die architektonische Entwicklung in vielen Ländern von größter Wichtigkeit war, denn durch prächtige Bauten konnte Macht demonstriert werden, beauftragten Herrscher oft auch Baumeister aus dem Ausland.

Als „Padre“/ Regularkleriker brauchte Guarino Guarini verschieden zum Mönch in keinem abgeschlossenen Kloster oder in einer klösterlichen Gemeinschaft leben. Dennoch war der Theatiner-Priester gebunden an die Regeln der Ordensgemeinschaft. Grundregeln einer jeden Gemeinschaft waren Ehelosigkeit, Gehorsam und Armut.

Priester blieb Guarino Guarini scheinbar zeitlebens, was nicht zuletzt durch seine Namensnennung auf der Titelseite der Publikation „Architettura civile“ von 1737 zu erfahren ist: „Padre D. Guarino Guarini“ (Abb. 5.02). Als Regularkanoniker konnte sich Guarini recht frei bewegen. Die Arbeit als Baumeister für Herrschaftshäuser wäre demnach denkbar. Wie aber sah die Entlohnung des Hofbaumeisters Guarini aus? Erhielt dieser überhaupt einen Lohn oder gingen alle Gelder unmittelbar an den Theatiner-Orden oder gar an den Vatikan?

Am Ende dieses Kapitels, welches Einblicke in das Leben Guarinis und seine Zeit gab, konnten einige Fragen zur „beruflichen Konstruktion“ Hofbaumeister – Ordenspriester beantwortet werden. Doch bleiben einige Fragestellungen offen. Andere werden Ihnen als Leser des Guarini-Beitrages beim Überfliegen der Absätze in den Sinn gekommen sein. Vermutlich wurden auch manche Fakten ungenügend beleuchtet. Ich hoffe, es gelang mir Interesse bei Ihnen zu wecken. Wenn sie Fragen und Anregungen haben, würde ich mich über eine fachliche Diskussion mit Ihnen freuen: mail[at]great-engineers.de.