Wohnen als Erbepraktik? Robuste (Wohn)Räume der Nachkriegsmoderne
Bis zu den 1970er Jahren beherrschte das Leitbild der in verschiedene Funktionen geteilten und gegliederten Stadt fast unangefochten die städtebaulichen Planungen und Fachdebatten. Der Glaube an Planbarkeit aller Lebensbereiche, daher auch an eine statische Gesellschaft, formte die Planungsgrundlage. Jedes System fand eigene Narrative, die Antwort jedoch war, erstaunlicherweise, dieselbe – präfabriziertes Wohnen. In kapitalistischen Staaten wurden die Großsiedlungen im Kontext der Massenproduktion und des Massenkonsums im Wohlfahrtsstaat errichtet, um „a new kind of rationalized, modernist, and populist democratic society“ (Harvey 2000) einen Ausdruck zu geben. Nach der Moskauer Unionskonferenz erklärten wiederum die Staaten des Ostblocks den industriellen (Wohnungs)Bau als Mittel, um den neuen Menschen für die sozialistische Gesellschaft zu gestalten.
Die Planungskonzepte der Großwohnsiedlungen gelten heute als überholt, jedoch der Umgang mit den Wohnbauten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird intensiv in den Fachkreisen von Architekten, Stadtplanern, Denkmalpflegern aber auch in den Stadtverwaltungen und Wohngesellschaften diskutiert. (Eckardt et al. 2017; Buttlar et al. 2007; Snopek 2014; Koolhaas et al. 2014; Escherich 2012) Europaweit gibt es unterschiedliche Ansätze des Umgangs mit den großräumigen Strukturen der Nachkriegsmoderne. Vom mittlerweile schon überholten, früher im großen Maßstab betriebenen Abriss (wie z.B. Eisenhüttenstadt), über behutsamen Um-/Ausbau (Grand Parc/ Bordeaux) bis zu Nichts-Tun (Os. Słowackiego/Lublin).
Trotz der zurzeit deren Entstehung zugeschriebenen Denkmalunfähigkeit (Mager 2017) werden die Bauten der Nachkriegsmoderne zu Denkmälern. Gleichzeitig wurden die Großsiedlungen der Nachkriegszeit überall gebaut und das Ubiquitäre verkörpert nicht das Denkmalfähige, Ikonische, sondern das Gewöhnliche, was sich in das Denkmalkanon nicht einfügt. Desto wichtiger ist es, diese Strukturen nicht nur aus der bauhistorischen und denkmalpflegerischen Perspektive zu betrachten, sondern in die Debatte über deren Zukunft die alltäglichen Aspekte einfließen zu lassen und sie über die sich im Laufe der Zeit verändernden Narrativen der Nutzung, der Bewohner, der Eigentümer und der Öffentlichkeit zu ergänzen. (Cupers 2013)
Ein empirischer Ausgangspunkt stellt das fehlende Wissen über die tatsächlichen Bewohner oder sogar das fehlende Interesse der Experten (Architekten, Stadtplaner, Denkmalpfleger) daran, wie die Siedlungen von ihren Bewohnern "gelebt" werden, welche Qualitäten zum ‚guten Wohnen‘ beitragen und wie das Wohnen selbst als eine Erbepraktik wahrgenommen werden könnte.
Diese Kluft zwischen dem Verständnis der Experten und den Bewohnern, strukturiert daher sowohl die Forschungsfragen und die Analyse der ausgewählten Beispiele (Os. Slowackiego in Lublin, Schlangenbader Str. in Berlin und Wendisches Viertel in Cottbus). Theoretisch trägt die Arbeit zu einer akademischen Debatte über das Erbeverständnis und Erbeproduktion bei, indem sie eine Diskussion über die Konzepte und Verständnis von Wohnsiedlungen als Erbe durch breitere analytische Perspektiven von stadtethnographischen Forschungsmethoden, Emotionen und um das Konzept des robusten Wohnens ergänzt.
Quellen:
Buttlar, Adrian von; Heuter, Christoph; Pehnt, Wolfgang; Topfstedt, Thomas (Hg.) (2007): Denkmal! Moderne. Architektur der 60er Jahre; Wiederentdeckung einer Epoche; [Referate der Sektion „Die Bauten der 1960er Jahre - schon veraltet, aber noch nicht historisch?“ auf dem XXVIII. Deutschen Kunsthistorikertag in Bonn 2005, ergänzt um Beiträge der Teilnehmer Wolfgang Pehnt und Thomas Topfstedt]. Deutscher Kunsthistori- kertag. 1. Aufl. Berlin: jovis (Reihe „Forschungen zur Nachkriegsmoderne“).
Cupers, Kenny (Hg.) (2013): Use matters. An alternative history of architecture. London: Routledge.
Eckardt, Frank; Meier, Hans-Rudolf; Scheurmann, Ingrid; Sonne, Wolfgang (Hg.) (2017): Welche Denkmale welcher Moderne? Zum Umgang mit Bauten der 1960er und 70er Jahre. Berlin: jovis.
Escherich, Mark (Hg.) (2012): Denkmal Ost-Moderne. Aneignung und Erhaltung des baulichen Erbes der Nach- kriegsmoderne. Berlin: jovis (Jovis Diskurs, Bd. 16).
Harvey, David (2000): The condition of postmodernity. Cambridge, Mass., Oxford: Blackwell.
Koolhaas, Rem; Otero-Pailos, Jorge; Wigley, Mark; Carver, Jordan (Hg.) (2014): Preservation is overtaking us. Columbia University. New York: GSAPP Books (GSAPP transcripts, 1).
Mager, Tino (2017): Destructive Egomania. In: Frank Eckardt, Hans-Rudolf Meier, Ingrid Scheurmann und Wolfgang Sonne (Hg.): Welche Denkmale welcher Moderne? Zum Umgang mit Bauten der 1960er und 70er Jahre. Berlin: jovis, S. 82–90.
Snopek, Kuba (2014): Belyayevo forever. A soviet microrayon on its way to the UNESCO list. Unter Mitarbeit von Anna Zaytseva. Berlin, Moscow, Strelka Institute: DOM publishers (Grundlagen, Volume 39).
Biographische Angaben zu Karolina Hettchen auf der Website des Lehrstuhls