»Ich suchte nicht nach Schönheit, ich suchte nach Freiheit.« Der Topos der Ruine in der Arbeit Lina Bo Bardis

Das geplante Forschungsvorhaben fokussiert die Entwurfsmethode der italienisch‐brasilianischen Architektin Lina Bo Bardi (1914 – 1992) im Umgang mit dem baulichen Bestand in unterschiedlichen Stadien des Zerfalls im Brasilien der 1960er‐ bis 1980er‐Jahre. Bo Bardis Auffassung von Restaurierung, Geschichte und Zeitlichkeit soll dabei sowohl in ihrer praktischen als auch in ihrer theoretischen Arbeit untersucht werden. Während die Unterscheidung zwischen Alt und Neu in der Architektur des 20. Jahrhunderts mitunter paradigmatische Bedeutung erlangt hat, schlägt Lina Bo Bardi schon früh einen Perspektivenwechsel vor, indem das

Vorhandene nicht verworfen, sondern die Basis für etwas Neues bildet. Das Forschungsvorhaben geht dabei von der These aus, dass der Topos der Ruine ein wiederkehrendes Motiv im architektonischen Schaffen von Lina Bo Bardi ist, weder als „Effekthascherei“ noch als Abfall menschlicher Kultur, sondern als baulich‐räumliche Erfahrung von Zerstörung und materieller Armut, aber auch als narrativer Reichtum und Freiheit jenseits ästhetischer Normierung. Anhand einer sorgfältigen Quellenforschung und Bauanalysen vor Ort soll dieser Erfahrungsschatz nachgezeichnet und dargelegt werden, wie Lina Bo Bardi daraus eine Entwurfspraxis entwickelt, die das «Kaputte» und den Mangel an materiellen Ressourcen durch ein Maximum an Freiheit für die Nutzenden zu kompensieren vermag. Schliesslich soll im Rahmen der Arbeit ein «Vokabular der Bobard’schen Eingriffe» erarbeitet und dessen Anwendbarkeit in der gegenwärtigen von ressourcenökonomischen Forderungen geprägten Umbaupraxis reflektiert werden.

1 Bo Bardi, Lina: Museu de Arte de São Paulo. São Paulo: Editora Blau, Lissabon / Instituto Lina Bo e P. M. Bardi, São Paulo 1997. S. 16. Übersetzung des Autors aus dem Portugiesischen.

Abstract:

The planned research project focuses on the design method of the ItalianBrazilian architect Lina Bo Bardi (1914 ‐ 1992) in dealing with the building stock in different stages of decay in Brazil from the 1960s to the 1980s. Bo Bardi's conception of restoration, history and temporality will be examined in both her practical and theoretical work. While the distinction between old and new has sometimes acquired paradigmatic significance in 20th‐century architecture, Lina Bo Bardi proposes a change of perspective early on, in that what exists is not discarded but forms the basis for something new. The research project is based on the thesis that the topos of the ruin is a recurring motif in Lina Bo Bardi's architectural work, neither as "showmanship" nor as a waste of human culture, but as a structural‐ spatial experience of destruction and material poverty on the one hand, and of narrative richness and freedom beyond aesthetic standardization on the other hand. On the basis of careful source research and building analyses on site, this wealth of experience will be traced and it will be explained how Lina Bo Bardi develops a design practice from it that is able to compensate for the "broken" and the lack of material resources with a maximum of freedom for the users. Finally, the thesis will develop a "vocabulary of Bobardian interventions" and reflect on its applicability in the current practice of reconstruction, which is characterised by resource‐ economic demands.

Kurzbiografie

Geboren in Zürich (1980). Richard Zemp studierte Architektur und Städtebau an der ZHAW Winterthur und an der Fakultät für Architektur und Städtebau der Universidade de São Paulo (FAUUSP) . Er absolvierte ein Nachdiplomstudium in Geschichte und Theorie der Architektur an der ETH Zürich und bildete sich auf dem Gebiet der Architekturpsychologie weiter. Er lebte und arbeitete mehrere Jahre in São Paulo, wo er sich eingehend mit Lina Bo Bardi befasste. Zemp verfasste Artikel und Kurzprosa in verschiedenen Fachzeitschriften und war Mitarbeiter in der Redaktion archithese. Von 2015 bis 2022 arbeitete er als Wohn‐ und Stadtforscher an der Hochschule Luzern. Seit 2017 ist Richard Zemp Lehrbeauftragter am Institut für Architektur der Hochschule Luzern. Er ist Co‐Autor der Bücher «Vokabular des Zwischenraums» (Zürich: Park Books 2019) und «Atlas des Dazwischenwohnens – Wohnbedürfnisse jenseits der Türschwelle» (Zürich: Park Books, 2022) sowie Autor des Buches «Bauen als freie Arbeit – Lina Bo Bardi und die Grupo Arquitetura Nova» (Dom Publishers 2020). Zemp promoviert seit 2022 am Institut für Bau‐ und Kunstgeschichte der BTU Cottbus.